# taz.de -- Nahostkonflikt im Berliner Alltag: Aus der Wolke ragt ein Zeigefing… | |
> Seit dem Hamas-Angriff auf Israel ist binäres Denken Trend. Könnte das | |
> auch an der Verschiebung unserer Idee von innen und außen liegen? | |
Bild: Manche brüllen, andere zünden Kerzen an: Mahnwache am Bebelplatz für d… | |
Am Freitag in der U-Bahn am Hermannplatz: Die Passagiere haben Stöpsel im | |
Ohr und Screens vor den Augen – sie haben sich eine Welt gebaut, die sich | |
das Außen vom Leib hält. Doch oft dringt es durch das Innen zurück. So wie | |
bei der Diskussion über [1][den Nahostkonflikt] in meinem Gruppenchat. | |
Schwarzweißdenken ist [2][viral gegangen]. Ich glaube, es ist die | |
Verstrickung von innen und außen, die uns auseinandertreibt, aber auch | |
hierhergebracht hat. War bei meinen Vorfahren innen und außen klar | |
definiert, ist in meiner Generation das Außen innen und das Innen außen. | |
Bin ich Teil des Konflikts oder nur Beobachtender? Wo bin ich, wenn mein | |
Körper hier sitzt, während mein Internetselbst in einer schwarzen Wolke | |
über Israel schwebt, woraus ein drohender Zeigefinger ragt? Komme ich in | |
den Himmel, wenn ich die Fragen zum Schweigen bringe und tanzen gehe? | |
In jedem Fall entscheide ich mich gegen die [3][PAN-Labelnacht] im Berghain | |
und dafür, das Wochenende möglichst außerhalb utopischer Wirklichkeiten zu | |
verbringen. Ausgehen und rumgehen. | |
Dennoch mache ich mich am Samstagabend auf den Weg zur Julia Stoschek | |
Collection. Gezeigt wird der Film „Remote“ der Künstler*innen Mika | |
Rottenberg und Mahyad Tousi. Er handelt von fünf Frauen, die in | |
verschiedenen Metropolen leben und durch geheime Portale in ihren Wohnungen | |
miteinander verbunden sind. Ungeahnte Verstrickungen, da war doch was. | |
## Mit Sprache gepolstert | |
Im Bus sage ich dem Busfahrer hallo und er nichts. Mein Lächeln friert ein | |
und trifft eine Frau, die zurücklächelt. Ich versuche zu zeigen, dass ich | |
sie gar nicht adressiert hatte, und schäme mich für das selektive | |
Emotionsmanagement. | |
Auf dem Bus steht in leuchtenden Lettern: „Koscher, halal und vegan. | |
Falafel, Salami und Seitan. […]. Uns [4][schmeckt Vielfalt] im Job.“ Ich | |
muss an den Satz von Enis Maci aus „Eiscafé Europa“ denken: „Wenn die | |
Zustände außen zu hart werden, werden sie innen mit Sprache gepolstert, bis | |
alle vergessen haben, dass es sie gibt.“ | |
Seit dem Krieg ist selbst das nicht mehr der Fall – wie so oft, wenn Leute | |
vom sicheren Hafen Westeuropas aus weit entferntes Unglück in ihr Nahfeld | |
hineinkopieren, um ungestört Betroffenheit zu inszenieren. Sprache ist | |
ungemütlich, gefährlich geworden. Es wurden Rasiermesser darin versteckt. | |
Ob in [5][der Sonnenallee], wo der Konflikt in der Luft hängt wie das | |
Tränengas der letzten Tage, oder im privaten Gruppenchat, stets soll ich | |
mich bekennen für eine Seite. Jeder Satz soll stets einem anderen Satz | |
vorausgehen, der den folgenden wiederum relativiert oder rechtfertigt. | |
## Wirklichkeitsstream ohne Werbepause | |
Als seien wir alle Diplomaten, die Regierungserklärungen abgeben. Als seien | |
wir keine ambiguen Wesen, die das Leiden und die Wut unserer jüdischen und | |
arabischen Freund*innen, mit denen wir hier sonst Falafel essen, nicht | |
nachvollziehen können. Als lebten wir nicht zugleich im Innen und Außen. | |
Ich steige aus dem Bus, doch der Film hat bereits begonnen. Kein Einlass | |
mehr. Also streune ich herum wie ein Gast auf der Suche, irgendwo fest zu | |
werden. Am Kanal in Kreuzkölln gefallen sich Leute in eitler Wildheit. | |
Jemand verkauft selbst gemachte Cocktails, vom Lastenrad des Pfandsammlers | |
dröhnt Reggaeton. Die Leute wollen was erleben, die Leute erleben was, sie | |
gehen in die Clubs und ich nach Hause. | |
Am Sonntagmorgen kapituliert mein inneres Chaos vor dem zenhaften Vibe | |
eines Cafés. Meine Lieblingsbarista zeichnet Herzen in den Milchschaum für | |
frisch Geduschte in geiler Kleidung. Sie leuchten, als hätten sie gerade | |
Taschengeld bekommen, und sagen: „Manchmal rauche ich, aber nur auf Partys“ | |
oder „Freitag war ich bis 22 Uhr im Office“. | |
Ihre Sprache wirkt so beruhigend wie bedrohlich – ich suche nach | |
versteckten Klingen. Das Nervensystem streamt die Wirklichkeit ohne | |
Werbeunterbrechung. | |
1 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Kein-Austausch-mit-Geiseln-in-Gaza/!5966701 | |
[2] /Nach-dem-Angriff-auf-Israel/!5965024 | |
[3] https://www.berghain.berlin/de/events/76042/ | |
[4] /Studie-zu-Leben-Schwarzer-Menschen/!5968869 | |
[5] /Debatte-um-Berliner-Sonnenallee/!5965454 | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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