# taz.de -- Unruhe in palästinensischen Gebieten: Zorn und Enttäuschung | |
> Im Westjordanland herrschen Wut auf Israel und Frust gegenüber dem | |
> Westen. Die Verbrechen der Hamas halten manche für Propaganda. Ein | |
> Ortsbesuch. | |
Bild: Demonstration in Ramallah anlässlich des Israelbesuchs von Emmanuel Macr… | |
„Enttäuscht. Das ist das erste Wort, das der 29-jährigen Ayla* einfällt. In | |
einem schicken Café in Ramallah haben sie und ihre Freundin Reem* sich an | |
diesem Nachmittag getroffen, sie plaudern an einem Tisch über ihre | |
Cappuccinos hinweg. Enttäuscht sind sie über die Reaktionen des Westens auf | |
den Konflikt in Gaza. „Wir dachten, die Welt würde mehr Unterstützung | |
zeigen. Kinder sind Kinder überall“, sagt sie in Bezug auf die Opfer. | |
Für die jungen Frauen aus dem Westjordanland sowie für viele andere | |
Palästinenser*innen herrscht in westlichen Ländern wie Deutschland | |
eine Doppelmoral, die Frage nach der Haltung westlicher Medien beantworten | |
sie mit bemitleidenden Blicken. Manche würden ihren Job nicht richtig | |
machen, ungeprüft Nachrichten der israelischen Seite verbreiten, ohne an | |
eine mögliche Eskalation zu denken, sagt Reem. | |
„Denk an Bidens Äußerungen über die geköpften Babys, die er dann | |
zurücknahm. Was dachten sich die Menschen in seinem Presseteam dabei?“ Sie | |
wolle aber nicht generalisieren, betont Reem, Jeans, modische Handtasche | |
und blond gesträhnte Haare. | |
Hinter der Theke des Cafés laufen auf Flachbildschirmen ununterbrochen | |
[1][Bilder von zerbombten Gebäuden, von denen nur Schutt und Asche übrig | |
bleiben, von in Reihen aufgestellten und in weiße Tücher eingehüllten | |
Leichen]. Darunter glänzen Blaubeer-Cheesecake und Tiramisu in der Vitrine. | |
Ein Kontrast, der kaum stärker sein könnte. | |
## 85 Kilometer entfernt fallen Bomben | |
Nach Ramallah, Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) mit 40.000 | |
Einwohner*innen, ist der Konflikt in Gaza bislang eher still eingesickert. | |
Zumindest tagsüber könnte man in den Cafés und den engen Marktgassen auf | |
den ersten Blick fast vergessen, dass es ihn überhaupt gibt. Nur die Bilder | |
auf den Fernsehern und die Nachrichten aus den laut aufgedrehten Radios | |
erinnern daran, dass etwa 85 Kilometer entfernt Bomben täglich Menschen, | |
Schulen und Gebäude zertrümmern, dass noch näher, in Israel, immer wieder | |
die Sirenen heulen wegen des Raketenbeschusses aus Gaza. | |
Auch die Demonstrationen auf dem zentralen Al-Manara-Platz erinnern immer | |
mal wieder an den Konflikt. „Ich bin wütend“, schreit da etwa eine | |
62-jährige Frau aus Jerusalem, Sonnenbrille, grau melierte Locken, nicht | |
lange, bevor ein junger Mann neben ihr ein Bild des französischen | |
Präsidenten Emmanuel Macron anzündet. Wütend ist sie auf Israel, weil bei | |
den Luftangriffen in Gaza auch Kinder und Zivilist*innen sterben, aber | |
auch auf westliche Länder, die sich auf Israels Seite stellen. „Sie haben | |
Blut an ihren Händen“, schreit sie weiter. In ihren Augen sind bewaffnete | |
Hamas-Kämpfer keine Terroristen, sondern legitime Widerstandskämpfer. | |
## „Macron raus!“ | |
Anlass dieser Demonstration ist der [2][Israelbesuch Macrons am vergangenen | |
Dienstag]. Dass er eine internationale Koalition gegen die Hamas | |
vorgeschlagen hat, ist für viele Palästinenser*innen wie das Gießen | |
von Öl ins Feuer. „Macron raus!“, skandieren um die 100 Demonstrant*innen, | |
die gleichzeitig auch für die Freilassung palästinensischer Gefangener | |
plädieren, ehe sie sich Fahnen schwenkend auf den Weg in die Straßen des | |
Stadtzentrums machen. | |
Der Protest bleibt friedlich; anders als noch vor einer Woche, als | |
Demonstrationen in Ramallah mit dem Einsatz von Blendgranaten und Tränengas | |
endeten. Außerhalb der Hauptstadt, besonders in Flüchtlingslagern, fallen | |
seit Tagen immer wieder Schüsse, meistens während nächtlicher Razzien | |
israelischer Streitkräfte. Mehr als 100 Palästinenser*innen sind seit | |
dem 7. Oktober bei Konfrontationen mit Militärangehörigen und | |
Siedler*innen sowie bei Luftschlägen im Westjordanland gestorben. | |
Zweimal hat die israelische Armee diese Woche Dschenin sogar aus der Luft | |
angegriffen – etwas, das es seit den 2000er Jahren nicht mehr gegeben | |
hatte. | |
## Angst, dass „Gaza in Dschenin passiert“ | |
„Die Menschen in Dschenin sind überrascht, traurig, verärgert“, sagt | |
Mustafa Sheta, Manager des Kulturzentrums The Freedom Theater, am Tag nach | |
dem zweiten Luftschlag. „Dass sie mit Raketen auf junge Menschen zielen, | |
das ist noch nie passiert.“ Nach Angaben des israelischen Militärs haben | |
einige Palästinenser das Feuer eröffnet, als die Streitkräfte eine Razzia | |
in dem Flüchtlingslager durchführten. Daraufhin habe eine Drohne auf die | |
Gruppe geschossen. Drei Menschen sind gestorben, mehr als 20 wurden | |
verletzt. | |
Momentan gebe es einen Streik in der Stadt, Märkte und Geschäfte seien | |
geschlossen, erzählt Sheta. Die Menschen wüssten nicht, wie sie sich | |
schützen können, einige hätten ihre Häuser verlassen. Viele hätten Angst, | |
dass „Gaza in Dschenin passiert“. Er habe Angst, dass die Gewalt eskaliert. | |
Eine Art Kriegsstimmung liege in der Luft. | |
## Von Präsident Mahmud Abbas immens enttäuscht | |
Trotzdem bleibt die Lage im Westjordanland auf palästinensischer Seite | |
relativ ruhig. Doch wie lange noch? So lange, wie die regierende | |
Fatah-Partei nicht zur Mobilisierung aufrufe und die Sicherheitskräfte die | |
Lage unter Kontrolle behalten könnten, meint Ibrahim Dalalsha, Direktor des | |
einheimischen Thinktanks Horizon Center. Die Situation sei aber wie Glut, | |
die unter Asche schwelt. | |
Dalalsha sitzt in seinem Büro im fünften Stock, aus den Fenstern sieht man | |
die Gebäude internationaler Organisationen. Ibrahim Dalalsha sagt, er wolle | |
kein Blatt vor den Mund nehmen. Die PA sei gerade geschwächt. Die | |
Unfähigkeit, Palästinenser*innen zu schützen, habe ihr Ansehen und | |
ihren Rückhalt in der Bevölkerung schwinden lassen. Und es gebe Menschen, | |
die Rache wegen der palästinensischen Toten nehmen möchten. „Ich glaube, | |
dass die Menschen von Präsident Mahmud Abbas immens enttäuscht sind“, fasst | |
er zusammen. Dabei versuche Abbas eine Gewalteskalation zu verhindern. | |
„Meiner Meinung nach hat er mehr Weisheit, als die Menschen bereit sind zu | |
akzeptieren“, sagt Dalalsha mit einem Lächeln. | |
## In die Arme der Hamas getrieben | |
Es ist im Westjordanland momentan sehr schwer, Menschen dazu zu bringen, | |
offen über Politik zu reden. Viele haben Angst. Sie haben sogar Angst | |
davor zu sagen, vor wem sie Angst haben. | |
Die [3][Repression hat auch im Westjordanland zugenommen]. | |
Palästinenser*innen wurden wegen Posts in sozialen Netzwerken von den | |
israelischen Behörden festgenommen, einige berichten, an den israelischen | |
Checkpoints hätten Soldaten die Handys der Pendler kontrolliert. Ein | |
28-jähriger Mann aus Jerusalem sagt, viele Palästinenser*innen hätten | |
wegen Onlineposts ihre Jobs in Israel verloren, Mitarbeiter würden sogar in | |
Einrichtungen wie Krankenhäusern nach ihrer Haltung zum Krieg gefragt. Es | |
ist nicht möglich, die einzelnen Schilderungen zu verifizieren, doch | |
Adalah, eine NGO, die Rechtshilfe für Araber*innen in Israel anbietet, | |
gibt an, dass sie gerade Hunderte Fälle von Diskriminierung verfolgt. An | |
Universitäten, am Arbeitsplatz, bei Polizeieinsätzen. | |
Für den 28-Jährigen, der anonym bleiben möchte, ist die PA eine Art | |
„Wächterin Israels“. „Israel hat die Macht“, sagt er. Die PA habe darin | |
versagt, den Palästinenser*innen zu beweisen, dass die Welt die | |
Besatzung in den Gebieten beenden könne. Das habe Menschen in die Arme der | |
Hamas getrieben. Nicht alle seien Islamisten, fügt er hinzu. Doch im Westen | |
vergäßen viele, dass die Geschichte Palästinas nicht erst am 7. Oktober | |
begonnen habe. „Sie verstehen nicht, was Besatzung bedeutet.“ | |
## Eine dritte Intifada wird erwartet | |
In seiner Enttäuschung ist der junge Mann nicht allein. Nach einer Umfrage | |
des Palestinian Center for Policy and Survey Research vom März 2023 glauben | |
80 Prozent der Menschen im Westjordanland nicht mehr, dass die PA die | |
wirtschaftliche Lage der Palästinenser*innen verbessern oder Gaza und | |
Westjordanland vereinen könnte. Die Unterstützung für eine | |
Zweistaatenlösung schwindet, mehr als 70 Prozent der Einwohner*innen | |
erwarteten eine dritte Intifada. | |
Eines der Probleme ist Ibrahim Dalalsha zufolge, dass die Welt | |
ausschließlich auf das Blutvergießen reagiere, was dieses wiederum | |
befeuere. Die Hamas sei gerade sehr populär geworden in der arabischen | |
Welt. Mit militärischen Lösungen könne man jedoch extremistische Ideen | |
nicht töten. „Der einzige Weg ist, moderate Ideen zu unterstützen“, sagt … | |
mit verschränkten Händen. Doch der Konflikt hat auch die Arbeit von | |
Friedensorganisationen erschwert, die sich für moderate Ideen und Lösungen | |
einsetzen. | |
## Die Menschen sind polarisiert | |
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Gegenangriff auf Gaza können die | |
Mitarbeiter des Vereins Palestinian Peace Coalition (PPC) nicht mehr so | |
wie früher in abgelegene Dörfer fahren. Zumindest geht das nicht mehr, ohne | |
ums eigene Leben zu fürchten. Oder an Checkpoints festzustecken. | |
So erzählt es der Direktor der PPC, Nidal Foqaha. „Wegen des Kriegs sind | |
die Menschen polarisiert“, sagt er. Friedensbotschaften würden scheinbar | |
irrelevant. Und für die Mitarbeiter*innen sind Drohungen durch die | |
Siedler*innen und Straßensperren konkrete Hindernisse. Deshalb habe man | |
einige Aktivitäten auf Eis gelegt, andere fänden online statt. | |
Doch Foqaha will nicht aufgeben. „Ich bin fest davon überzeugt, dass es in | |
jeder Krise eine Chance gibt.“ Seine Hoffnung: dass die Menschen bald | |
verständen, wie wichtig Frieden sei. Es hätten bereits mehrere Länder für | |
eine Rückkehr zur Zweistaatenlösung plädiert. Diese Option, die lange vor | |
sich hinsiechte und von manchen bereits für tot erklärt wurde, ist | |
plötzlich wieder lebendig. Doch noch ist Frieden nicht in Sicht. Selbst in | |
Dörfern und Kleinstädten, in denen noch keine unmittelbare Gefahr droht, | |
sind die Effekte des Konflikts sichtbar. | |
## Deutsche Medien sind verdächtig | |
An der Bir-Zait-Universität nördlich von Ramallah sind nur vereinzelte | |
Student*innen zu sehen, die sich zwischen den Sandsteingebäuden bewegen. | |
Auf den Boulevards des sonst quirligen Campus ist an diesem Herbsttag nur | |
Vogelgezwitscher zu hören. | |
„Wegen des Kriegs in Gaza und der unsicheren Straßen bekommen wir | |
Fernunterricht“, erklärt eine der wenigen Student*innen, die bereit sind, | |
Fragen zu beantworten. Viele Palästinenser*innen sind inzwischen | |
skeptisch, wenn ausländische Journalist*innen kommen. Manche haben | |
Angst, dass ihre Worte verzerrt dargestellt werden. Andere wollen nicht mit | |
Medien reden, die ihnen parteiisch, also proisraelisch, erscheinen. | |
Deutsche Medien sind verdächtig. | |
## Seltene Momente des Friedens | |
„Viele Medienkanäle sind mit Israel verbunden, wenn auch indirekt. Sie | |
verbreiten Lügen zugunsten der Besatzung und stellen sie als Opfer dar und | |
uns als Kriminelle“, sagt die Französischstudentin über westliche Medien. | |
Dass die Hamas unschuldige Menschen, Frauen und Kinder in Israel brutal | |
ermordet hat, tut sie als Propaganda ab. Israel sieht sie nur als | |
Kolonialmacht, die ihr Land gestohlen habe. „Widerstand ist unsere einzige | |
Option. Das war nicht unsere Wahl. Niemand mag den Tod, und niemand mag es, | |
zu töten.“ | |
Noch ist es an mehreren Orten im Westjordanland ruhig. Etwa in der | |
Hauptstadt, in den Geschäften und Cafés, wo sich alte Freund*innen auf | |
einen Cappuccino treffen. Es gibt sie, diese Momente des Friedens in | |
Nahost. Selbst jetzt. Doch sie werden immer seltener. | |
* Namen von der Redaktion geändert | |
27 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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