| # taz.de -- Referendum in Australien: Australiens Indigene „am Boden zerstör… | |
| > In Australien ist der Versuch gescheitert, Aborigines eine größere | |
| > Mitsprache bei der Gestaltung von Gesetzen zu geben, die sie besonders | |
| > betreffen. | |
| Bild: Wahlzettel in einem Auszählungszentrum in Melbourne | |
| Canberra taz | Der Traum von einem unabhängigen Beratungsgremium für | |
| Aborigines im australischen Parlament ist zerschmettert. [1][Eine Vorlage | |
| für eine entsprechende Änderung der Verfassung] wurde am Samstag von bis zu | |
| 60 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung verworfen. | |
| Der führende Aboriginal-Aktivist Thomas Mayo fasste die Reaktion vieler | |
| Indigener zusammen, als er im australischen Fernsehen meinte: „Ich bin am | |
| Boden zerstört“. Die Geschichte werde mit den Gegnern der Vorlage „hart ins | |
| Gericht gehen“. Verschiedene prominente Aboriginal-Aktivisten hatten im | |
| Vorfeld des Entscheids gemeint, sie würden im Fall eines Nein ihren zum | |
| Teil jahrzehntelangen Kampf für mehr Rechte aufgeben. Der indigene Anwalt | |
| Noel Pearson meinte, er werde nach einem solchen Resultat „für immer | |
| verstummen“. | |
| Premierminister Anthony Albanese appellierte in einer ersten Reaktion an | |
| die indigenen Australier: „Bleiben Sie zuversichtlich im Wissen, dass sie | |
| geliebt werden“ meinte er, den Tränen nahe. | |
| In Australien herrscht Stimm- und Wahlpflicht. Nachdem vor ein paar Monaten | |
| Umfragen auf eine Annahme der Vorlage hingedeutet hatten, begann eine von | |
| den konservativen Oppositionsparteien angeführte Kampagne sukzessive die | |
| Argumente der Befürworter zu untergraben. Die Gegner streuten mit | |
| wachsender Intensität Zweifel an Sinn und Zweck einer sogenannten „Voice To | |
| Parliament“ (Stimme im Parlament) für Aborigines und Bewohner der | |
| Torres-Meeresstrasse. | |
| Unter anderem behaupteten sie, das Forum würde den Ureinwohnern mehr Macht | |
| und Einfluss auf die Politik geben als „gewöhnlichen“, nicht-indigenen | |
| Australiern. Selbst vor erzwungenen Landrückgaben und vor Mitspracherechten | |
| für Aborigines beim Abbau von Rohstoffen warnten konservative Politiker und | |
| ihnen nahestehende Medien. Solche Behauptungen wurden von unabhängigen | |
| Experten widerlegt. Die Körperschaft hätte einzig eine beratende Funktion | |
| gehabt und keine gesetzgebende, bestätigten Juristen. Auch wären die | |
| endgültige Form und Zusammensetzung des Gremiums im Falle einer Annahme der | |
| Vorlage vom Parlament bestimmt worden, nicht von den Ureinwohnern selbst. | |
| Die Rhetorik der Gegner war zeitweise so aggressiv, dass | |
| Aboriginal-Organisationen einen Anstieg rassistisch motivierter | |
| Anfeindungen meldeten. Gleichzeitig behauptete Oppositionsführer Peter | |
| Dutton, die Vorlage und ihre Befürworter würden „das Volk spalten“. | |
| Laut dem Vorschlag hätte das Gremium aus Vertretern verschiedener indigener | |
| Gemeinden das Parlament bei der Gestaltung von Gesetzen beraten sollen. Es | |
| wäre primär um Fragen gegangen, welche für die ersten Bewohner des | |
| Kontinents von besonderer Wichtigkeit sind: die in vielen | |
| Aboriginal-Gemeinden schlechte Gesundheitsversorgung, dramatische | |
| Ausbildungsdefizite, Armut, Wohnraummangel. Befürworter und unabhängige | |
| Akademiker weisen auf Beispiele in anderen Ländern hin, wo stärkere | |
| Mitbestimmung durch die direkten Betroffenen zu einer deutlichen | |
| Verbesserung der sozialen und gesundheitlichen Lebensbedingungen indigener | |
| Menschen beitrugen. | |
| Die rund 900.000 Aborigines und indigenen Bewohner der Torres-Meeresstraße | |
| zwischen Australien und Papua-Neuguinea gehören unter den 26 Millionen | |
| Australiern zu den am stärksten benachteiligten Gruppen. Sie sterben im | |
| Durchschnitt acht Jahre früher als nicht indigene Australier und [2][leiden | |
| unter starker Diskriminierung]. In vielen Aboriginal-Gemeinden fehlt es an | |
| Dienstleistungen im Gesundheit- und Ausbildungsbereich, die für Weiße | |
| Australier selbstverständlich sind. Entscheide über Unterstützungsmaßnahmen | |
| werden oft von nicht-indigenen Beamten getroffen, ohne Konsultation mit den | |
| Betroffenen. Kritiker sprechen von einem „kolonialen“ und | |
| „paternalistischen“ System. | |
| Die Verankerung der „Stimme“ im Grundgesetz hätte auch bedeutet, dass die | |
| Ureinwohner des Kontinents zum ersten Mal überhaupt in der Verfassung | |
| erwähnt worden wären. Im Gegensatz etwa zu Neuseeland hat Australien keinen | |
| Vertrag mit seiner indigenen Bevölkerung. Das Grundgesetz war 1901 in Kraft | |
| getreten, 113 Jahre nach Beginn der Weißen Besiedlung des Kontinents – oder | |
| „Invasion“, wie viele Ureinwohner die Ankunft britischer Strafgefangener | |
| und ihrer Bewacher nennen. | |
| Erst seit 1967 sind Indigene überhaupt als Bürger anerkannt, auf einem | |
| Kontinent, den sie seit mindestens 65.000 Jahren bewohnen. Und erst 1992 | |
| beendete ein Gericht den Mythos, Australien sei vor der Ankunft der Weißen | |
| „Terra Nullius“ gewesen – unbewohntes Niemandsland. | |
| Vertreter der Ureinwohner hatten darauf hingewiesen, die Referendumsvorlage | |
| sei ein Weg, „um unsere Menschen zu ermächtigen und ihren rechtmäßigen | |
| Platz in unserem eigenen Land zu erhalten“, so die indigene | |
| Rechtsprofessorin Megan Davis. Das Referendum war das Ergebnis jahrelanger | |
| Verhandlungen zwischen den verschiedenen indigenen Nationen und Stämmen, | |
| mit ihren eigenen Sprachen, Kulturen und Riten. Die Gespräche endeten im | |
| sogenannten „Uluru-Statement aus dem Herzen“, das die australische | |
| Bevölkerung „in Liebe“ dazu einlud, die ersten Bewohner Australiens nach | |
| über einem Jahrhundert des Wartens im Grundgesetz anzuerkennen. | |
| Premierminister Anthony Albanese hatte die Nation noch am Samstagmorgen | |
| dazu aufgerufen, Ja zu stimmen. Es gehe darum, einen Fehler der Geschichte | |
| zu korrigieren und den Ureinwohnern des Kontinents gegenüber Respekt zu | |
| zeigen. „Ausgerechnet in dieser Woche, in der es so viel Hass gibt in der | |
| Welt, ist dies eine Gelegenheit für Australier, Liebenswürdigkeit zu | |
| zeigen“. Es gehe darum, wie sich das Land als Nation sehe, „aber auch | |
| darum, wie uns die Welt sieht“, so der Regierungschef in Sydney. | |
| Albanese war das Referendum nicht nur persönlich ein wichtiges Anliegen. Er | |
| löste damit [3][ein im Mai letzten Jahres gemachtes Wahlversprechen] ein. | |
| 14 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Urs Wälterlin | |
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