# taz.de -- Lüneburgs Intendant über Theater-Aus: „Da wird es nun existenzi… | |
> Dem Theater Lüneburg droht die Insolvenz. Weil das Land Niedersachsen | |
> Anteile an Tarifsteigerungen nicht übernimmt, könnten nun Entlassungen | |
> folgen. | |
Bild: Ein Erfolg: Barockoper Dido und Aeneis ist in Lüneburg | |
taz: Herr Fouquet, was hat zur bedrohlichen finanziellen Schieflage | |
geführt? | |
Hajo Fouquet: Wir leiden unter einem strukturellen Defizit. In dem | |
Gutachten kann jeder nachlesen: Das Theater Lüneburg arbeitet effizienter | |
und effektiver als alle vergleichbaren Häuser und es hat seit meinem | |
Amtsbeginn die Eigeneinnahmen von 1,2 auf 1,9 Millionen Euro erhöhen | |
können. Es erwirtschaftet also etwa 25 Prozent des 10-Millionen-Gesamtetats | |
selbst gegenüber einem Durchschnitt von 12 bis 16 Prozent in deutschen | |
Theatern. In der Jahresbilanz stand aber häufig ein Minus, manchmal mit | |
250.000 Euro. Das konnten wir mit der Eigenkapitalrücklage ausgleichen und | |
hatten ja auch eine materielle Sicherheit, weil uns das Haus gehört. | |
Trotzdem war das immer ein Vabanque-Spiel. Wir haben es bis zu dieser | |
Saison immer hinbekommen. Auch weil bei uns etwa Bühnenbild-Etats auch | |
heute keinen Cent höher sind also 2010, [1][obwohl die Materialkosten | |
explodieren.] | |
Aber jetzt schlagen die inflationären Preissteigerungen und Tariferhöhungen | |
durch? | |
Genau. Zudem hatten wir in der ersten Saison nach der Pandemie zwar schon | |
wieder 90.000 Besucher, davor aber waren es über 110.000. Das ist – in | |
einer Stadt mit 80.000 Einwohnern schon ein ungewöhnlich guter Zuspruch. | |
Aber jetzt fehlen Einnahmen bei steigenden Ausgaben. Da wird es nun | |
existenziell. Wenn unsere Träger das nicht auffangen, steht das | |
Insolvenzgericht vor der Tür. Wir wollen nicht mehr Geld für teurere | |
Bühnenbilder oder mehr Personal. Wir wollen nur den Status quo erhalten. | |
Und die Politik verhindert das? | |
Die Gretchenfrage ist: [2][Ist der Politik die Kultur in einem Flächenland | |
wichtig oder nicht?] Niedersachsen steht an der beschämenden 13. Stellen | |
der Bundesländer, was Kulturfinanzierung angeht. Das hat auch zur Folge, | |
dass Tarifsteigerungen gar nicht oder nur teilweise erstattet werden. | |
Zwischen 120.000 und 200.000 Euro blieben in vielen Jahren an uns hängen. | |
Diese auflaufenden Mehrkosten, die sich wie Zins und Zinseszins | |
fortpflanzen, haben sich auf derzeit über eine Million Euro addiert. Und es | |
wird immer mehr. Durch die jetzt beschlossenen Tarifsteigerungen und die | |
Erhöhung der Mindestgage muss unser Theater jedes Jahr rund 700.000 Euro | |
zusätzlich für Personal ausgeben. Was wir tun wollen, aber nicht mehr | |
können. | |
Im Koalitionsvertrag der Landesregierung steht die Absicht, die kommunalen | |
Theater von den Tarifsteigerungen zu entlasten. Der Rat der Stadt Osnabrück | |
hat das gerade für sein Theater anteilig zugesagt und das Land an seine | |
Pflicht erinnert, sich ebenso zu verhalten. | |
Seit drei Jahren übernehmen Stadt und Landkreis Lüneburg die Hälfte unserer | |
Kosten für die Tariferhöhungen. Die andere Hälfte wurde aber nicht vom Land | |
übernommen. Nur eine Einmalleistung von 383.000 Euro soll jetzt kommen. Das | |
fängt nicht auf, was in den Vorjahren alles nicht aufgefangen wurde. | |
Daher hat die auf Kulturhaushaltsplanung spezialisierte Beratungsfirma | |
Actori nun drei Wegsparmodelle entwickelt, damit das Theater die | |
Finanzierungslöcher der Politik stopft, indem man Menschen entlässt. Die | |
Lüneburger Symphoniker sind mit 29 Stellen schon jetzt das kleinste | |
Theaterorchester in Deutschland. Ihm sollen laut Actori-Szenario 1 aber | |
zehn Stellen gestrichen werden. | |
Der Vorschlag reicht nicht aus, um die aktuellen Probleme zu lösen, weil | |
dabei allein Abfindungskosten in Höhe von 1,5 Millionen Euro anfallen. | |
Zudem wäre ein Orchester mit 19 Stellen kein Orchester mehr, sondern eine | |
große Band. Was das Musiktheater dann noch künstlerisch bedienen kann, ist | |
extrem eingeschränkt auf bestimmte Musicals oder Unterhaltungsproduktionen. | |
Mit dem zweiten Vorschlag, das ganze Orchester abzuschaffen, könnte die | |
Finanzierungslücke geschlossen werden. | |
Alle Musiker, ihre Leiter und so weiter müssten wir dann nach Hause | |
schicken, Chor und Gesangssolisten aber dürfen bleiben, um mit kleinen | |
Gastensembles noch Musicals und mit einem Gastorchester eine Oper pro | |
Spielzeit zu realisieren. [3][Alle Konzerte würden entfallen.] | |
Der radikalste Schritt ist Szenario 3: Alle Mitarbeiter des Musiktheaters | |
werden entlassen. | |
Wir dürften dann mal ein Opern-Gastspiel einkaufen, hätten de facto aber | |
ein Zwei-Sparten-Haus mit Schauspiel und Ballett. Die könnten vielleicht je | |
eine Produktion mehr machen pro Spielzeit, aber das Haus nicht mehr adäquat | |
füllen oder annähernd die jetzigen Einnahmen erzielen. 40 Prozent unserer | |
Umsatzerlöse erwirtschaften wir derzeit mit dem Musiktheater. Fällt das | |
weg, kommen vielleicht noch 50.000 Besucher pro Saison. Dann wird | |
sicherlich die Politik fragen, ob sich das überhaupt noch lohnt und das | |
Theater nicht gleich komplett geschlossen werden könnte. | |
Auch weil Renommee, Vielfalt und Qualität des Angebots stark einbüßen | |
würden. Gerade Crossover-Produktionen wie jetzt zur Saisoneröffnung Henry | |
Purcell’ s „Dido und Aeneas“ und die eher traditionellen | |
Operninszenierungen gehören zur Identität Ihrer Bühne … | |
Bei den Projekten mit Oper, Schauspiel und Ballett rennen uns die Leute die | |
Bude ein. In dieser Saison folgt Ende März 2024 noch Daniel Kehlmanns | |
„Tyll“, den fünf Haus-Regisseure- und -Choreografen auf die Bühne bringen | |
werden, Generalmusikdirektor Thomas Dorsch schreibt die Musik, die | |
Bühnenfassung stammt von der leitenden Schauspieldramaturgin Hilke | |
Bultmann. | |
All das würden die Sparszenarien unmöglich machen … | |
… wir haben das einzige Orchester und Musiktheater für über eine Million | |
Menschen in Nordostniedersachsen. Bevor diese Strukturen zerstört werden, | |
muss jetzt eine Grundlagenentscheidung für dieses Angebot her. Denn wenn | |
eine Sparte abgeschafft wird, stirbt sie für immer. | |
Die Szenarien des Gutachtens sind also eine Art Drohkulisse. Wie lautet Ihr | |
Gegenvorschlag um sie zu verhindern? | |
Land und Kommunen müssten das Geld, das sie über die Jahre nicht zum | |
Ausgleich der Tariferhöhungen gezahlt haben, jetzt einmal auf ihren | |
Sockelbetrag zu unserer Finanzierung drauflegen, also Land und | |
Stadt/Landkreis jeweils eine halbe Million Euro. Zudem müssten die Träger | |
planungssicher zusagen, alle Tarifsteigerungen, die ab dieser Spielzeit | |
anfallen, in vollem Umfang zu übernehmen. Dann könnten wir auf dem heutigen | |
Niveau weiterarbeiten. | |
17 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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