| # taz.de -- Multikultureller Sender in Berlin: Radio geht die Puste aus | |
| > Noch existiert das Berliner Freiwilligen-Radio multicult.fm. Der Sender | |
| > ist in seiner Existenz bedroht und meldete Anfang des Monats Insolvenz | |
| > an. | |
| Bild: Multicult.fm bei einer Präsentation Ende Januar 2023 im Roten Rathaus | |
| Berlin taz | Das gläserne Studio befindet sich mitten in Kreuzberg. Live | |
| aus der Marheineke Markthalle sendet hier das Radio [1][multicult.fm], wenn | |
| man einschaltet, hört man 24/7 Nachrichten, Talkshows und jede Menge | |
| Weltmusik in verschiedenen Sprachen. | |
| Aber um zuzuhören, ist man nicht mal auf den Onlinestream – oder vormittags | |
| die Alex Frequenz 91,0 – angewiesen. Es reicht, in die Markthalle zu | |
| kommen, wo Lautsprecherboxen direkt auf die Einkäufer:innen gerichtet | |
| sind. | |
| Im zweiten Stock, über den Gemüse- und Feinkostständen, thront das | |
| Sendestudio, wo man den Moderator:innen direkt zuschauen kann, wie sie | |
| ihre Sendungen aufnehmen. | |
| Normalerweise gibt es dort auch die „Multicult Plaza“, wo alle – ganz | |
| unabhängig vom Hintergrund und auch den monetären Mitteln – eingeladen | |
| sind, sich auszutauschen, sich niederzulassen, gemeinsam Radio zu hören, | |
| oder sich ein Getränk im [2][Café on Air] zu holen. Normalerweise. | |
| ## Vorgänger Radio Multikulti | |
| Denn das gemeinnützige Radio muss nach 14 Jahren Insolvenz anmelden. Das | |
| teilten die Macher:innen am 1. Februar in einer Pressemitteilung mit. | |
| „Die Frage war nicht, warum, sondern eher warum gerade jetzt“, sagt | |
| Chefredakteurin Brigitta Gabrin in einem Gespräch mit der taz, „die | |
| Finanzierung war immer unsere Achillesferse“. | |
| Ursprünglich war es so: [3][Radio Multikulti], das zum Rundfunk | |
| Berlin-Brandenburg gehörte, sendete mittels UKW-Frequenz in mehreren | |
| Sprachen über Kultur und Musik aus den verschiedensten Ländern, es richtete | |
| sich an Zugewanderte, mehrsprachig Aufgewachsene und kulturell | |
| Interessierte. | |
| Der RBB stampfte den Sender jedoch [4][2008 ein], um 16 Millionen Euro zu | |
| sparen, obwohl Mitarbeiter:innen und Hörer:innen protestierten. | |
| Gabrin, die dort von Anfang an arbeitete, reagierte schnell. Sie scharte | |
| Freiwillige um sich und gründete ein neues Radio, um die Lücke zu | |
| schließen. Das war der Beginn von multicult.fm, die erste Sendung | |
| produzierten sie an Silvester 2008, die im Internet-Stream zu hören war. | |
| Sendeort: ein altes Schiff, die „MS Heiterkeit“, das einem RBB-Techniker | |
| gehörte. | |
| Das Problem der Finanzierung | |
| Doch Leute und Technik kosteten Geld und die Freiwilligen brauchten ein | |
| neues Sendestudio, weil die Streamkapazität im Schiff nicht ausreichte: Zu | |
| viele Menschen wollten gleichzeitig auf das Radio zugreifen, das Interesse | |
| bestand somit offenkundig. | |
| Die Medienpolitik habe dem Sender eine halbe Millionen Euro in Aussicht | |
| gestellt, sagt Brigitta Gabrin. Aber die kamen nicht: „De facto waren die | |
| ersten drei bis vier Jahre reines Ehrenamt.“ | |
| Jährlich braucht der Sender [5][150.000 Euro], um den Regelbetrieb | |
| aufrechtzuhalten. Bis heute bekommt multicult.fm als nicht kommerzieller | |
| Sender jedoch keine Regelfinanzierung. | |
| ## ‚private/public‘-Finanzierung, einzigartig in Deutschland | |
| „Faktisch werbefrei, nur mithilfe von Spenden und Fördergeldern gelingt | |
| wirtschaftlich 14 Jahre lang eine ‚Private/public‘-Finanzierung aus | |
| privaten und öffentlichen Mitteln, die für einen Radiosender in der | |
| Bundesrepublik Deutschland einzigartig ist“, steht in der aktuellsten | |
| Pressemitteilung. | |
| Das Radio kann sich querfinanzieren, indem es Workshops und Einzelcoachings | |
| anbietet, auch das Sendestudio kann man für einzelne Projekte mieten. Pro | |
| Jahr werden außerdem zwei bis drei Projektanträge gestellt, die | |
| Finanzierung dafür kommt aus verschiedenen Fördertöpfen. | |
| ## Geförderte Projekte | |
| Ein großes Projekt der jüngeren Zeit hatte das Bundesamt für Migration und | |
| Flüchtlinge mit 50.000 Euro gefördert: die „Multicult Plaza“, die als | |
| interkultureller Veranstaltungsort ausgebaut werden sollte. | |
| Ein weiteres für zwei Jahre vom Europäische Sozialfonds gefördertes | |
| Projekt: „Crossmedia for Change!“ Dort wurden momentan arbeitslose | |
| Journalist:innen in multimedialer Arbeit gecoacht, um wieder einen | |
| Einstieg in die Arbeitswelt zu finden. | |
| Laut der Chefredakteurin hätten die durch die Projekte entstandenen Erträge | |
| das Radio zumindest teilfinanzieren können. Corona machte dem ein Strich | |
| durch die Rechnung, die „Multicult Plaza“, war menschenleer, die gesamte | |
| Organisationsstruktur von „Crossmedia for Change!“ musste verändert werden. | |
| Nur mithilfe staatlicher Überbrückungs- und Soforthilfen habe die | |
| gemeinnützige Unternehmergesellschaft überlebt, heißt es in der | |
| Presseerklärung. Aber der coronabedingte Stau in den EU-Fördertöpfen habe | |
| nun in das vorläufige Insolvenzverfahren geführt. Mit weniger | |
| stattfindenden Projekten gehe einher, dass nicht so viele Inhalte für die | |
| Sendungen produziert werden. „Deswegen läuft hier momentan mehr Musik als | |
| normal“, sagt Gabrin. | |
| ## Die Rolle der Ehrenamtlichen | |
| Drei Vollzeitarbeitsplätze bei multicult.fm fördert das Jobcenter, zwei | |
| sind aus Eigenmitteln finanziert. Im Prinzip betreibt das Radio aber ein | |
| Team von 60 Ehrenamtlichen. Laut Gabrin hat die Hälfte davon einen | |
| [6][Migrationshintergrund], andere waren eine Zeit lang im Ausland. | |
| Rekrutiert würden die freien Mitarbeiter:innen „ganz organisch“, | |
| einige blieben nach einem Schulpraktikum einfach da, andere sind schon in | |
| Rente, die Altersspanne ist laut Gabrin groß. | |
| Einer der Freiwilligen ist Eike Gebhardt, 80 Jahre alt. Er hat 20 Jahre in | |
| den USA gewohnt, wo er unter anderem eine Professur an der Universität Yale | |
| innehatte und auch lange als Journalist tätig war. Immer Freitagmorgens ist | |
| er mit dem Format „KulTour“ auf Sendung. | |
| Er lädt sich regelmäßig Gäste ein. „Ich habe ein großes Adressbuch aus d… | |
| Vergangenheit“, sagt er. Mal habe er mit Sahra Wagenknecht gesprochen, mal | |
| mit dem amerikanischen Botschafter. | |
| Dass der RBB 2008 das Vorgängerradio Multikulti abschaffte, nennt Gebhardt | |
| eine „Schweinerei, wirtschaftlich und politisch“. Für ihn ist multicult.fm | |
| ein Mittelpunkt des Kiezes: „Hier treffen sich Leute aus verschiedenen | |
| Milieus und sozialen Klassen.“ | |
| ## Das Radio als Schlüssel zu Communities | |
| Auch die Chefredakteurin sieht das so: „Wir sind ein wichtiger Schlüssel zu | |
| Communities und haben viel Credibility. Manche kommen hier in Schlappen | |
| vorbei, sehen junge Leute und quatschen mit denen.“ | |
| Nach den Silvesterkrawallen hätte das Radio laut Gabrin der erste | |
| Ansprechpartner sein können. Freiwillige der bilingualen Sendung „Culture | |
| Clash“ hätte sie auf die Straße schicken können, um den Hintergründen der | |
| Krawalle auf die Spur zu gehen. 30 junge Menschen aus verschiedenen | |
| Kulturen und Ländern arbeiten bei „Culture Clash“ – aber die Mittel für | |
| einen solchen Beitrag waren einfach nicht da. | |
| Auch die Freiwilligen selbst stünden teils nicht mehr zur Verfügung, | |
| berichtet Gabrin. Deren Leben habe sich seit dem Ukrainekrieg und der | |
| Energiekrise verändert. Viele hätten weniger Zeit und Mittel, noch in ihrer | |
| Freizeit Radio zu machen: „Ehrenamt muss man sich leisten können“, sagt | |
| Gabrin. Dazu komme, dass die Herkunftsfamilie von Migrant:innen manchmal | |
| mitfinanziert werde. | |
| ## Ein Verlust der Multikulturalität | |
| Hörer:innenpost bekommt multicult.fm aus vielen Ländern, einige | |
| Sendungen werden im Ausland produziert. Gabrin erzählt, dass kürzlich zwei | |
| neue Moderatorinnen zu „[7][Culture Clash]“ kamen: aus Polen und | |
| Frankreich. Die Französin macht die Sendung auf Deutsch, nimmt sie auf und | |
| schickt sie Gabrin zum Redigieren. „Ich habe es ihr noch nicht gesagt“, | |
| erzählt die Chefredakteurin mit sorgenvollem Blick. | |
| Es, das ist die unsichere Zukunft des Radios. Bis zum 1. April kann | |
| [8][multicult.fm] den Sendebetrieb noch fortführen; was dann ist, wird sich | |
| in den nächsten Wochen entscheiden. Der letzte Antrag über 70.000 Euro für | |
| ein Podcast-Projekt wurde abgelehnt. Mit der Einstellung des Sendebetriebs | |
| würden vier Honorarkräfte, zwei Praktikant:innen, fünf Vollzeitangestellte | |
| und zahlreiche Ehrenamtliche ihren Job verlieren – und Berlin sein | |
| [9][multikulturelles Radio]. | |
| 20 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://multicult.fm/ | |
| [2] /Radiocafe-eroeffnet/!5029166 | |
| [3] /Integration-und-Medien/!5150163 | |
| [4] /Sparmassnahmen-des-RBB/!5181817 | |
| [5] /Chefredakteurin-ueber-radiomulticultfm/!5051086 | |
| [6] /Internet-Radiomacherin-im-Interview/!5558694 | |
| [7] https://multicult.fm/programm/sendungen/culture-clash | |
| [8] https://multicult.fm/ | |
| [9] /Mangelnde-Diversitaet-in-deutschen-Medien/!5913880 | |
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| Wio Groeger | |
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