# taz.de -- Nach dem Angriff auf Israel: Schwarz-weißer Naher Osten | |
> Die Fronten verhärten sich im Diskurs um die Entwicklungen in Israel und | |
> im Gazastreifen. Für die Lösungssuche ist das wenig hilfreich. | |
Bild: Der Nahost-Konflikt wird in Deutschland vor allem durch die schwarz-weiß… | |
Rechtfertigen und verstehen sind zwei grundsätzlich verschiedene Begriffe. | |
Ein Beispiel? Kein Problem. Die Nazis übernahmen 1933 die Macht, auch weil | |
viele Rechtsextremisten in Schlüsselpositionen der Politik, Polizei und der | |
Reichswehr saßen, die sie dabei unterstützten, ein verzerrtes Bild zu | |
zeichnen; nicht die Rechte, sondern die Linke sei die eigentliche Gefahr | |
für die Demokratie. Das heißt: Ich verstehe, wie die Nazis an die Macht | |
kamen, rechtfertige es hingegen nicht. Rechtfertigen ist immer auch | |
beurteilen. | |
Man findet etwas gut und gerecht oder eben nicht. Verstehen hingegen setzt | |
die Fähigkeit zu analysieren voraus und eine Verbindung herzustellen | |
zwischen Ursache und Wirkung. Warum also schreiben mir Deutsche in den | |
sozialen Netzwerken eine Unterstützung der Hamas zu, wenn ich lediglich auf | |
die Ursachen für den schrecklichen Angriff der Hamas gegen Israel | |
hingewiesen habe? | |
Vor einigen Monaten fand aus Solidarität mit den Hunderttausenden | |
[1][Demonstrant:innen, die seit Anfang des Jahres in Israel gegen die | |
Regierung von Benjamin Netanjahu protestieren], eine Kundgebung in Berlin | |
statt. Viele in Israel und auch hier glauben, dass der Umbau der Justiz in | |
Israel, den die jetzige Regierung plant, etwas mit der Besatzung in den | |
Palästinensergebieten zu tun hat. So waren – ähnlich wie in Tel Aviv – bei | |
den Protesten nicht nur israelische, sondern auch palästinensische Fahnen | |
zu sehen. | |
In Tel Aviv marschieren die Leute ganz friedlich nebeneinander. Ihr Motto | |
lautet: Freiheit ist Freiheit für alle. Gerechtigkeit kann es nur geben, | |
wenn sie für alle gilt. Die Berliner Polizei hat das nicht verstanden und | |
trennte die israelischen Fahnen sofort von den palästinensischen Fahnen. Am | |
Ende wurden die Demonstrant:innen mit den palästinensischen Flaggen | |
nach Hause geschickt. | |
## Oberflächliches Politikverständnis | |
Das sehr oberflächliche politische Verständnis Israels und Palästinas hier | |
in Deutschland, führte dazu, dass man die komplexe Realität der Region im | |
schwarz-weißen Muster betrachtet. Hier „die Guten“, dort „die Bösen“.… | |
hat auch der Bundestag beigetragen, als er die BDS-Bewegung verurteilte, | |
ohne sich die Mühe für eine Erklärung zu machen, wer hinter der Bewegung | |
steht und welche Ziele sie verfolgt. | |
Die Vorstellung, dass es nicht möglich sei, sowohl die israelische | |
Besatzung als auch die Hamas anzuklagen, führte dazu, dass viele legitime | |
und kluge Köpfe, die die Lage in Israel und Palästina analysieren, die die | |
Medien aus der Region auf Hebräisch und Arabisch tatsächlich lesen, mit | |
Menschen dort reden und zu komplexen Schlussfolgerungen geraten, zum | |
Schweigen gebracht werden. | |
Genau das ist der Ansatz Netanjahus: Wer nicht auf meiner Seite ist, muss | |
auf der Seite der Islamisten stehen. So simuliert ein Video seiner letzten | |
Wahlkampagnen Kämpfer des Islamischen Dschihad, wie sie mit hoch gehaltenen | |
Flaggen durch Israel fahren – weil man seine Gegner gewählt hatte. Die | |
aktuelle Koalition unter Netanjahu ist die erste in der Geschichte des | |
Staats, die sich allein aus rechten Parteien zusammensetzt. | |
Bislang war stets eine wie auch immer geartete Partei der Mitte | |
Regierungspartner, die die Rechtsextremisten stoppte, und die Netanjahu bei | |
Bedarf verantwortlich machen konnte, wenn es zu Terroranschlägen kam. Nach | |
den letzten Wahlen entschieden sich alle Parteien, die keine ausgesprochen | |
rechte Positionen vertreten, gegen eine Beteiligung an der | |
Regierungskoalition. Stattdessen sitzen heute auch Rechtsextremisten auf | |
Ministerstühlen. | |
## Linke sind immer der Sündenbock | |
Trotzdem macht Netanjahu weiterhin die liberalen und linken Kräfte in der | |
Opposition für das Massaker Anfang vergangener Woche verantwortlich. Die | |
Linke in Israel muss immer als Sündenbock herhalten, ob sie in der | |
Regierung Netanjahus sitzt oder in der Opposition. Es geht gar nicht darum, | |
wie sie entscheidet und was sie tut, sondern darum, dass sie überhaupt | |
existiert. | |
Dieses auch in Deutschland verbreitete Schwarz-Weiß-Denken rührt aus einem | |
anderen oberflächlichen Verständnis, nämlich Deutschlands moralischer | |
Pflicht gegenüber den Jüdinnen und Juden und dem Irrglauben, dass es keine | |
Position zum israelisch-palästinensischen Konflikt ohne Bezug zum Holocaust | |
geben kann. So gibt es die einen Deutschen, die aufgrund ihrer historischen | |
Verantwortung hinter Israel stehen, und die anderen Deutschen, die wegen | |
ihrer historischen Verantwortung Palästina unterstützen. | |
Niemand traut sich, die Schwarz-Weiß-Brille abzusetzen. Die Jüdinnen und | |
Juden sind eine diverse Gruppe: ethnisch, geschlechtlich und auch | |
politisch. Viel einfacher ist, wenn man die eigene historische | |
Verantwortung verorten will, es gegenüber einem Nationalstaat zu tun. | |
Deutschlands Wahl, Israel oder Palästina als Wiedergutmachungsgegenstand zu | |
betrachten, ist eine Wahl für das Oberflächliche, für das Binäre. Da sollte | |
niemand auf die Idee kommen, sich dazwischen zu stellen. | |
Die Deutschen und ihre erkorene Binarität von Gut und Böse. Tatsächlich ist | |
diese Praxis eine klassisch antisemitische. In ihrem 2020 im deutschen | |
Buchhandel erschienenen Essay: „[2][Überlegungen zur Frage des | |
Antisemitismus“] unterscheidet die französische Rabbinerin Delphine | |
Horvilleur Antisemitismus vom „normalen“ Rassismus, indem Jüdinnen und | |
Juden das binäre Verständnis von „wir“ und „sie“ herausfordern, weil … | |
uns nicht so einfach als „die Anderen“ definieren lassen. | |
## Die Mechanismen des Terrors verstehen | |
Es sei kein einfacher Hass gegen einen anderen, sondern ein Hass gegen eine | |
Gruppe, die überhaupt das Konzept der „Anderen“ infrage stellt. Genau das | |
ist gerade in diesen Tagen besonders bezeichnend für den Hass gegen | |
israelische Humanist:innen, die sowohl die Menschenrechte der Jüdinnen | |
und Juden als auch die Menschenrechte der Palästinenser:innen gewahrt | |
haben möchten, die sowohl gegen die Faschist:innen in Netanjahus | |
Regierung und die Besatzung, als auch gegen die Islamisten der Hamas | |
eintreten. | |
„Sie kommen hierher“ und fordern das deutsche binäre Verständnis des Nahen | |
Ostens heraus. Sie sprechen in Bildern, die man mit einer schwarz-weißen | |
Brille nicht sehen kann. Wer sich in der oberflächlichen Komfortzone | |
eingerichtet hat und dort bleiben will, wird die Lage im Nahen Osten nie | |
wirklich verstehen, sondern immer nur eine Seite rechtfertigen, was zu | |
keiner Lösung führen wird. | |
Warum sollten wir überhaupt verstehen müssen? Weil es Leben rettet! Nur wer | |
die Mechanismen des Terrors versteht, kann vermeiden, dem Terrorismus in | |
die Hände zu spielen. Jede:r, der wie ich mit Terrorismus aufgewachsen | |
ist, kennt das Prinzip, von dem [3][Jean Baudrillard] in seinem Buch „Der | |
Geist des Terrorismus“ spricht: Der Terrorismus verändert uns. Der | |
Mechanismus von Terrorismus funktioniert in zwei Etappen. Im ersten Schritt | |
terrorisiert uns der brutale Andere. | |
Der, der mordet, der vergewaltigt. Im zweiten Schritt zwingt uns der | |
Terrorist, selbst solche Taten zuverüben, bis wir von uns selbst | |
terrorisiert werden. Dann hat der Terrorismus sein Ziel erreicht. Wenn wir | |
uns von dem Terrorismus nicht mehr unterscheiden können. In chassidischen | |
Kreisen in Israel wird oft die Geschichte von dem Admor (Meisterrabbiner) | |
von Kloyzenburg erzählt, der in der Schoah seine Frau und elf Kinder | |
verloren hat. | |
## Netanjahu hat die Hamas gestärkt | |
Eines Tages kam das zur Sprache, und er überraschte seine Zuhörer, als er | |
sagte: „Es könnte schlimmer sein.“ „Wie schlimmer?!“, schrien seine | |
Anhänger entsetzt. „Schlimmer wäre es, wenn wir die Mörder wären.“ | |
In Israel regiert aktuell das Bauchgefühl und der sehr verständliche Wunsch | |
nach Rache. Aber der Angriff der Hamas war nicht improvisiert. Es wurde | |
monate-, möglicherweise jahrelang geplant. Die Hamas ist auf eine | |
Bodenoffensive Israels vorbereitet. Und sie weiß, was dazu nötig ist, | |
schließlich ist es nicht die erste Invasion in den Gazastreifen. | |
Auch aus meiner Familie wurden Reservisten eingezogen, um gegen die Hamas | |
zu kämpfen. Ich schreibe aus Sorge. Und aus tiefem Misstrauen in die | |
Regierung Netanjahus. Misstrauen gegenüber einer Regierung, die nicht denkt | |
und nicht versucht zu verstehen. Misstrauen gegenüber eine Regierung, die | |
die Grenze zum Gazastreifen vernachlässigt hat, damit mehr Soldat:innen | |
Siedler:innen im Westjordanland beschützen können, wenn sie in | |
palästinensischen Dörfern das jüdische Laubhüttenfest feiern wollen – aus | |
reiner Provokation. | |
Und schließlich Misstrauen gegenüber einer Regierung, deren Minister | |
wiederholt davon gesprochen haben, dass die Hamas gut für Israel ist, weil | |
keiner erwartet, dass wir mit den Palästinenser:innen über ein | |
zukünftiges Land verhandeln, solange die Hamas so stark ist. Ein Ansatz, | |
der auch dazu führte, dass die Regierungen [4][Netanjahus die Hamas aktiv | |
stärkten]. Das alles muss verstanden werden. | |
Verstehen – nicht im Sinne von Empathie, um das noch mal deutlich zu | |
machen: Ich habe null Empathie für die Monster, die das Massaker | |
angerichtet haben. Sondern verstehen in dem Sinn, Ursache und Wirkung | |
richtig in Verbindung zu bringen, so wie man einen chemischen Prozess | |
versteht. Dieses Verstehen heißt: in der Zukunft vermeiden. Radikalisierung | |
passiert immer da, wo es Armut und Elend gibt. Wo Menschen nicht leben, | |
sondern nur überleben. | |
Das gilt für Gaza, das gilt für Israel, und das gilt für Städte und | |
Kleinstädte deutschlandweit. Solange wir die Verbindung zwischen | |
sozialökonomischer Unterdrückung und Radikalisierung nicht thematisieren – | |
und zwar ohne Angst, dass das als Rechtfertigung für Radikalisierung | |
missverstanden werden könnte, solange werden wir immer wieder überrascht | |
werden. Von der Hamas, von der [5][Wiederwahl Netanjahus], von der AfD. | |
Das zu verstehen heißt nach Lösungen zu suchen. Es heißt zu denken und die | |
Komfortzone zu verlassen, in der wir das Schwarz-Weiß-Spiel fortsetzen, bei | |
dem man nur das richtige Trikot tragen muss. | |
22 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Politische-Krise-in-Israel/!5921793 | |
[2] /Frauen-im-Judentum/!5663118 | |
[3] https://www.deutschlandfunk.de/romantiker-des-terrorismus-100.html | |
[4] https://www.timesofisrael.com/for-years-netanyahu-propped-up-hamas-now-its-… | |
[5] /Wahl-in-Israel/!5668264 | |
## AUTOREN | |
Tomer Dotan-Dreyfus | |
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