| # taz.de -- Lena Kampf über #MeToo-Recherchen: „Wir wollen niemanden canceln… | |
| > Seit #MeToo nimmt Verdachtsberichterstattung zu, Urteile definieren deren | |
| > Regeln neu. Ein Gespräch über die Rammstein-Recherche und ihre | |
| > Auswirkungen. | |
| Bild: Auch 2024 will Rammstein auf Europa-Tour gehen | |
| wochentaz: Frau Kampf, Verdachtsberichterstattung hat im Journalismus | |
| strenge Regeln. Aber immer, wenn über [1][#MeToo-Fälle] berichtet wird, | |
| kommt es im Nachhinein zu juristischen Auseinandersetzungen. Wieso wissen | |
| Journalist*innen nicht im Vorhinein, was erlaubt ist und was nicht? | |
| Lena Kampf: Als Presse gehört es zu unseren Kernaufgaben, Verdachtsmomenten | |
| nachzugehen und sie öffentlich zu machen. Gleichzeitig wissen wir, dass die | |
| Person, über die wir berichten, beschädigt werden kann. Das ist immer eine | |
| Gratwanderung, weil ein „Verdacht“ Existenzen vernichten kann. Auf der | |
| einen Seite steht das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen und auf der | |
| anderen das öffentliche Informationsinteresse. Es muss jedes Mal abgewogen | |
| werden: Gibt es ein öffentliches Interesse und haben wir einen | |
| Mindestbestand an Beweistatsachen, das heißt: Wie stark sind unsere Belege? | |
| Wenn beides gegeben ist, dann darf berichtet werden? | |
| Grundsätzlich ja, aber unter bestimmten Bedingungen. Nämlich ohne | |
| Vorverurteilung, sachlich und ausgewogen. Wir sind zum Beispiel | |
| verpflichtet, auch entlastende Umstände mitzuteilen, soweit es sie gibt. Im | |
| Fall von Rammstein heißt das, dass wir auch Schilderungen von Frauen | |
| eingearbeitet haben, die gute Erfahrungen mit Till Lindemann gemacht | |
| hatten. Außerdem gehört es selbstverständlich dazu, den Betroffenen | |
| anzuhören. Wenn eine dieser Voraussetzungen fehlt, dann wird die | |
| Berichterstattung rechtswidrig. Das heißt nicht zwangsläufig, dass sie | |
| falsch ist, aber dass wir über diesen Verdacht zu diesem Zeitpunkt nicht | |
| oder nicht in dieser Form hätten berichten dürfen. | |
| Die Hürden führen dazu, dass #MeToo-Recherchen in der Regel sehr lange | |
| dauern. Im Fall von Rammstein haben sie nur rund 10 Tage gedauert. Wieso | |
| ging es dieses Mal so schnell? | |
| Das liegt vor allem daran, dass die Vorwürfe schon vorher im Raum waren. Am | |
| 25. Mai 2023 hatte Shelby Lynn diese online veröffentlicht, am | |
| Pfingstwochenende kochte das Ganze langsam hoch. Am Montag haben mein | |
| Kollege aus der Recherchekooperation, Daniel Drepper, und ich beschlossen, | |
| einen Aufruf zu starten. Daniel hat getwittert: Helft uns recherchieren! | |
| Meldet euch bei uns, wenn ihr Beobachtungen oder Erfahrungen jeglicher Art | |
| gemacht habt. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise recherchieren wir | |
| erst einmal im Verborgenen und arbeiten uns wie beim Häuten einer Zwiebel | |
| an den Vorwurf und den davon Betroffenen heran. Dieses Mal ging es ja aber | |
| nicht darum, Vorwürfe öffentlich zu machen, sondern darum, sie | |
| ergebnisoffen zu prüfen. | |
| Wie sind Sie dabei vorgegangen? | |
| Nach dem Aufruf haben sich schon in den ersten Stunden zahlreiche Frauen | |
| bei uns gemeldet. Am gleichen Abend hatten wir dann intensive Gespräche mit | |
| mehreren Quellen, auch mit welchen, die Sex mit Till Lindemann hatten und | |
| das heute für sich als übergriffig einordnen. Die Berichte haben wir | |
| intensiv geprüft. Und obwohl die Erzählungen variierten, bildeten sich | |
| schnell klare Muster in Bezug auf das sogenannte Casting-System heraus. | |
| Viele Quellen waren bereit, eidesstattliche Versicherungen abzugeben. Wir | |
| hatten also recht schnell genug, um das Casting-System bei den Konzerten zu | |
| beschreiben, und zudem zwei Frauen, die eine Eins-zu-eins-Situation | |
| schildern. So konnten wir nach wenigen Tagen schon die Konfrontation an | |
| Lindemann und die Band rausschicken. | |
| Musste es auch so schnell gehen, weil Sie wussten, dass Kolleg*innen | |
| anderer Medien ebenfalls an dem Fall dran waren? | |
| Man spürt schon eine Art Wettbewerb, aber es war immer klar, dass wir uns | |
| davon nicht beeinflussen lassen. Bei uns gilt: Richtig kommt vor schnell. | |
| Dazu kommt, dass man bei #MeToo-Recherchen oft mit traumatisierten Menschen | |
| Kontakt hat, die wir auf keinen Fall unter Druck setzen wollen. Aber wir | |
| wären mit unserer Recherche nicht an die Öffentlichkeit gegangen, wenn wir | |
| nicht sicher gewesen wären. Am Ende hatten wir zahlreiche eidesstattliche | |
| Versicherungen plus diverse eigene Recherchen, um das Ganze zu | |
| plausibilisieren. | |
| Wozu braucht es eidesstattliche Versicherungen? | |
| Um die Schilderungen der mutmaßlich Betroffenen im Rahmen eines | |
| presserechtlichen Verfahrens glaubhaft zu machen, also belegen zu können. | |
| Sie tragen für uns auch erheblich zur Glaubwürdigkeit der Zeuginnen bei. | |
| Zwar entfalten sie erst vor Gericht ihre Gültigkeit. Aber wenn Zeuginnen | |
| bereit sind, eine abzugeben, versichern sie, dass ihre Aussage stimmt. Denn | |
| wenn sie sich als falsch herausstellt, können sie dafür belangt werden. Es | |
| gibt aber auch gute Gründe für Informantinnen, diese nicht abzugeben: Wenn | |
| wir die Versicherungen vor Gericht vorlegen müssen, wird ihre Identität | |
| dort offenbart, das heißt, wir können sie als Quelle gegenüber der | |
| Gegenseite nicht mehr schützen. Das ist in meinen Augen ein großes Problem. | |
| Aber die Bedeutung dieser Versicherungen nimmt in den letzten Jahren in | |
| meiner Wahrnehmung zu, einfach weil wir mehr #MeToo-Berichterstattung | |
| machen und es da oft Aussage-gegen-Aussage-Situationen gibt. Wenn ich | |
| genügend Zeuginnen für einen Verdacht habe, muss ich mich ja nicht so stark | |
| auf solche Versicherungen stützen. | |
| Doch auch die schützen nicht vor juristischen Auseinandersetzungen. Auch | |
| die Süddeutsche Zeitung (SZ) muss ihre Rammstein-Recherchen vor Gericht | |
| verteidigen. Wie viel Zeit nimmt das bei Ihnen ein? | |
| Wir haben aktuell drei juristische Auseinandersetzungen mit zwei | |
| Mitgliedern von Rammstein, wovon zwei sich auf dieselbe Textstelle | |
| beziehen. Das machen vor allem unsere Juristen. Ich persönlich habe an drei | |
| Verhandlungen selbst teilgenommen, das ist zwar nicht zwingend | |
| erforderlich, aber ich finde es wichtig, dass wir für die Recherchen | |
| einstehen. | |
| [2][Letzte Woche hat die SZ gegen Lindemann gewonnen.] Obwohl das Urteil | |
| nicht letztinstanzlich ist, heißt es, dass es die Pressefreiheit stärkt. | |
| Wieso? | |
| Das Gericht hat sich sehr ausführlich mit unserer ersten Berichterstattung | |
| auseinandergesetzt. In ihrer Urteilsbegründung sagt die Kammer, dass es die | |
| Aufgabe der Presse ist, über einen Verdacht zu berichten, wenn die | |
| Kriterien eingehalten werden. Was bei uns der Fall ist, so das Urteil. Das | |
| Besondere ist, dass in der Urteilsbegründung betont wird, dass es unter | |
| bestimmten Gesichtspunkten in Ordnung ist, wenn es für einen Vorwurf nur | |
| eine Zeugin oder Zeugen gibt. Denn sonst würde es dazu führen, dass nie | |
| über Aussage-gegen-Aussage-Situationen berichtet werden dürfte. | |
| Das wäre definitiv eine Einschränkung der Pressefreiheit. | |
| Genau. Das Gericht betont auch, dass das Rekrutierungssystem, das Lindemann | |
| im Übrigen nie abgestritten hat, nicht getrennt von mutmaßlichen sexuellen | |
| Übergriffen betrachtet werden könne. Eine öffentliche Diskussion sei | |
| notwendig, wenn junge Frauen systematisch für sexuelle Handlungen | |
| ausgesucht werden und diese dabei vielleicht aus Unerfahrenheit in | |
| Situationen geraten könnten, aus denen sie allein nicht mehr herauskommen. | |
| Die öffentliche Auseinandersetzung sei besonders aus Präventionsgründen | |
| wichtig. Und das war ja unser Ziel. Wir wollten zeigen: Es gibt dieses | |
| Casting-System, und in der Spitze kann es dazu führen, dass Frauen in | |
| Situationen geraten, in denen sie Grenzen nicht mehr klar ziehen können. | |
| Die Kommunikation über presserechtliche Urteile wird in den letzten Jahren | |
| immer mehr zum Politikum selbst. Oft beanspruchen beide Seiten für sich, | |
| den Fall gewonnen zu haben. Wie ist das möglich? | |
| Das liegt an der aggressiven Pressearbeit der Gegenseite, die wirklich | |
| jeden veränderten Halbsatz mit großem Trommelwirbel ankündigen. Da geht es | |
| ja teilweise um Nichtigkeiten, die mit der Sache an sich nichts mehr zu tun | |
| haben. Der Spiegel hat meiner Beobachtung nach angefangen selbst | |
| ausführlich über Urteile zu berichten, in denen sie involviert sind. Wir | |
| bei der SZ haben eigentlich die Haltung, dass unsere Texte für sich stehen | |
| müssen. Wir merken aber auch, dass es wichtiger wird, unser Handwerk und | |
| unsere Recherchen zu erklären. | |
| Kürzlich hat Rammstein angekündigt, nächstes Jahr auf Europatour zu gehen. | |
| Trotz vieler Recherchen gibt es also kaum Konsequenzen. Frustriert es Sie, | |
| dass Sie so viel Zeit in Recherchen stecken, die letztlich keine | |
| Auswirkungen haben? | |
| Nein, es ist nie unser Ziel gewesen, dass Konzerte abgesagt werden oder | |
| ihre Musik nicht mehr gehört wird. Wir wollten niemanden „canceln“. Wir | |
| wollten darüber aufklären, was bei den Konzerten passieren kann. Und wer | |
| das wissen möchte, der kann das jetzt nachlesen. Mich frustriert es, dass | |
| wir mit unserer Recherche in eine Art Kulturkampf geraten. | |
| Aber gibt es nicht die Befürchtung, dass die Bereitschaft der Betroffenen, | |
| mit der Presse zu sprechen, sinkt, wenn sie sehen, dass die | |
| Berichterstattung keine Konsequenzen hat? | |
| Das kann ich so nicht beantworten, ohne die Vertraulichkeit unserer | |
| Gespräche mit den Zeuginnen zu brechen. Nur so viel: Was die Frauen extrem | |
| belastet, ist diese Verbrüderung mit Till Lindemann und die Hetze gegen die | |
| Frauen, die sich zu Wort gemeldet haben. Shelby Lynn und Kayla Shyx | |
| erhielten Morddrohungen, weil sie mit Namen und Gesicht über ihre | |
| Erfahrungen gesprochen haben. Und das nehmen unsere Quellen sehr genau | |
| wahr. Auf sie wirkt es so, als seien ihre Erfahrungen nichts wert. | |
| [3][Ende August wurden die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Till | |
| Lindemann eingestellt]. Hat das auch Auswirkungen auf Ihre | |
| Berichterstattung? | |
| Das hat erst einmal nichts miteinander zu tun. Es geht dort ums Strafrecht, | |
| bei unseren Texten ums Presserecht. Die Einstellung erfolgte, weil der | |
| Staatsanwaltschaft nicht genügend Informationen vorlagen, um die | |
| Ermittlungen fortzuführen. Strafverfolgung hat aus guten Gründen hohe | |
| Hürden. Das heißt aber nicht, dass jegliches Verhalten, das unter dieser | |
| Schwelle liegt, okay ist. Auch nicht strafbares Verhalten kann moralisch | |
| anstößig und im öffentlichen Interesse sein. Das ist dann Teil eines | |
| gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Dazu können wir mit der | |
| Verdachtsberichterstattung beitragen. Und das hat nichts zu tun mit | |
| Tugendterror oder moralischer Entrüstung, sondern dass es ein Bewusstsein | |
| dafür braucht, wie Macht eingesetzt und missbraucht werden kann. | |
| Seit #MeToo vor sechs Jahren aufgekommen ist, gibt es viel mehr | |
| Verdachtsberichterstattung über sexualisierte Gewalt. Gleichzeitig wird | |
| sie durch immer mehr Urteile immer schwieriger. Wie schätzen Sie die | |
| Veränderung der letzten Jahre ein? | |
| Ich glaube, dass die Berichterstattung immer besser wird. Es ist gut, dass | |
| wir uns öffentlich damit auseinandersetzen, was und wie wir berichten. Also | |
| wie wir zu Verdachtsmomenten kommen. Urteil für Urteil bilden sich die | |
| Leitplanken der Verdachtsberichterstattung klarer heraus. Daraus lässt sich | |
| lernen. | |
| Was zum Beispiel? | |
| Eidesstattliche Versicherungen werden nicht nur normaler, sondern auch der | |
| Umgang damit wird geübter. Mittlerweile zitieren wir in unseren Texten | |
| direkt daraus, denn sobald wir die Aussagen daraus umformulieren und mit | |
| Schleifen versehen, kann uns das als „nicht belegt“ ausgelegt werden. Diese | |
| Learnings kommen auch aus vorherigen Prozessen, die teilweise von | |
| Kolleginnen und Kollegen anderer Medien geführt wurden. Das alles bedeutet | |
| nicht, dass wir nicht weiter um jede Formulierung ringen und uns jedes Mal | |
| aufs Neue die Frage stellen, ob es gerechtfertigt ist, diesen Verdacht in | |
| der Öffentlichkeit zu äußern – mit allen Konsequenzen, die das für die | |
| davon Betroffenen haben kann. Mit dieser Abwägung tun wir uns alles andere | |
| als leicht und sie muss in jedem Einzelfall getroffen werden. | |
| 20 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-metoo/!t5455381 | |
| [2] /Lindemann-verliert-gegen-SZ/!5962705 | |
| [3] /Ermittlungen-gegen-Lindemann-eingestellt/!5954836 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolina Schwarz | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Rammstein | |
| Recherche | |
| Journalismus | |
| Klassische Musik | |
| Sexuelle Übergriffe | |
| American Pie | |
| Rammstein | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Machtmissbrauch an Musikhochschulen: „Betroffene suchen Schuld bei sich“ | |
| Machtmissbrauch in der Kulturbranche beginnt schon in der Ausbildung. Das | |
| zeigt eine neue Umfrage. Eine Betroffene spricht darüber. | |
| Sexuelle Übergriffe verjähren nicht: Alles hat seine Zeit | |
| Die Vorwürfe gegen den US-Schauspieler Vin Diesel zeigen: Was Menschen | |
| brauchen, die Opfer von Gewalt wurden, ist Geduld, Ermutigung und Gesetze. | |
| Häusliche Gewalt eines NBA-Spielers: Männer schützen Männer | |
| Der Basketballer Miles Bridges hat seine Partnerin verprügelt und muss | |
| wiederholt vor Gericht. In die NBA darf er trotzdem zurückkehren. Ein | |
| Desaster. | |
| Lindemann verliert gegen „SZ“: Berichterstattung als Prävention | |
| Das Landgericht Frankfurt erklärt einen Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ | |
| über Till Lindemann für zulässig. Damit stärkt es Recherchen zu | |
| #metoo-Fällen. | |
| Ermittlungen gegen Lindemann eingestellt: Einschüchterung vorerst gelungen | |
| Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger | |
| Till Lindemann eingestellt. Wie groß ist der Schaden für die | |
| #MeToo-Bewegung? | |
| Eine Frage der Medienkompetenz: Auch im Urlaub immer der Beruf | |
| Der Lügenpresse-Vorwurf kann Journalisten nie kalt lassen. Die Forderung | |
| nach Medienkompetenz gilt aber für alle. Also auch für Journalisten. |