# taz.de -- Machtmissbrauch an Musikhochschulen: „Betroffene suchen Schuld be… | |
> Machtmissbrauch in der Kulturbranche beginnt schon in der Ausbildung. Das | |
> zeigt eine neue Umfrage. Eine Betroffene spricht darüber. | |
Bild: Wenn man mit einer Lehrperson allein ist, hört und guckt niemand zu | |
Von Beleidigungen bis zu übergriffigen Berührungen im Einzelunterricht: Die | |
Ausbildung an einer Musikhochschule wird oft von missbräuchlichem Verhalten | |
Dozierender begleitet. Eine neue Umfrage zeigt nun die Erfahrung von | |
Musikstudierenden: 414 Vorfälle von 108 Studierenden in Deutschland, | |
Österreich und der Schweiz (DACH-Region) sind von Juni bis Oktober 2023 bei | |
der Initiative gegen Machtmissbrauch angezeigt worden. Der Großteil der | |
Befragten ist 19 bis 30 Jahren alt und weiblich (78 Prozent). Die Umfrage | |
ist nicht repräsentativ, sondern in ihrem Ausmaß vor allem eins: ein | |
Weckruf. Anneliese* ist selbst Betroffene und hat die Umfrage | |
mitkonzipiert. | |
taz: Anneliese, von Sexismus an der Berliner Volksbühne bis zu Übergriffen | |
auf [1][Rammstein-Konzerten], in den letzten Jahren kamen immer wieder | |
Machtmissbrauchsvorwürfe in der Kulturbranche ans Licht. Wieso gibt es nun | |
[2][eine Umfrage eigens für Musikhochschulen]? | |
Anneliese: Das war längst überfällig. Dem Studierendenrat an der | |
Musikhochschule Weimar wurden immer wieder Fälle zugetragen. Der Impuls für | |
die Umfrage kam von dort und fand Unterstützung anderer Musikhochschulen, | |
auch in Österreich und der Schweiz. Vorfälle gibt es überall. | |
Hat Sie die Anzahl der geschilderten Fälle in der Umfrage überrascht? | |
Anneliese: Überhaupt nicht. Das Ausbildungsverhältnis ist ein sehr intimes. | |
Der Einzelunterricht findet hinter verschlossenen Türen statt. Niemand hört | |
oder guckt zu. Gleichzeitig sind deine Karriere und Förderung von deiner | |
Lehrperson abhängig. Zu sagen, man fühlt sich unwohl oder etwas ist nicht | |
okay, ist mit großen Risiken behaftet. | |
Mit welchen Risiken? | |
Meine Reputation in der Ausbildung, aber eben auch später im Job wird durch | |
die Benotung, die Empfehlung, das Netzwerk meiner Lehrperson bestimmt. Das | |
Angstklima entsteht früh durch eine emotionale Abhängigkeit: Mein Spiel | |
wird ständig bewertet. Das ist wichtiger Teil der Ausbildung. Wenn dabei | |
persönliche Beleidigungen dazukommen wie „du bist halt stinkfaul“, kippt | |
aber das Verhältnis. | |
Was passiert, wenn Studierende sich gegen Machtmissbrauch wehren? | |
Wenn du dich auflehnst, kannst du direkt und unbemerkt abgestraft werden, | |
indem die Lehrperson dir die Förderung entzieht, sich nicht mehr für deine | |
Konzerte einsetzt, dich weniger vernetzt. Beschwerdestellen in den | |
Musikhochschulen sind oft durch die Kolleg_innen der Lehrperson besetzt. | |
Sie sind nicht unabhängig. Oft genug suchen viele Betroffene die Schuld | |
zunächst bei sich. Bis eine Person erkennt, das ist nicht einfach nur eine | |
Lehrsituation, sondern Machtmissbrauch, verstreicht viel Zeit. Dabei | |
braucht es nicht den einen krassen Vorfall, um zu sagen: Ja, das war | |
Machtmissbrauch. | |
Die Erfahrungsberichte in der Umfrage sind sehr vielschichtig. | |
Stimmt. Uns erreichten Beschreibungen von Studierenden, deren Lehrende sie | |
vor anderen anschreien, rassistische Sprüche machen bis zu unpassenden | |
Berührungen. Eine Lehrperson kann mir auf einer engen Klavierbank sehr | |
nahekommen, ihre Hände beim Spiel auf meine legen oder Ähnliches. Es gab | |
auch den Fall einer Musikstudentin, die mit verbundenen Augen spielen | |
sollte. Das kann alles künstlerisch sinnvoll sein – manchmal ist es ein | |
Vorwand. Es sind diese Grauzonen, die zeigen, wie undeutlich die | |
Machtbeziehung definiert ist. Und es gibt noch mehr. | |
Inwiefern? | |
Zum Beispiel berichten Studierende, dass sie ihre Zeit vollständig nach den | |
Lehrpersonen richten müssen: Lehre am Wochenende, private Termine | |
wiederholt absagen, ständige Verfügbarkeit. Dabei wird nicht nur das Spiel | |
bewertet, abwertende Kommentare richten sich oft auch gegen die Person | |
selbst. | |
Die Umfrage ist anonym, um keine Rückschlüsse auf Betroffene und mögliche | |
Täter_innen zuzulassen. Wieso? | |
Viele schweigen zu Vorfällen, weil sie beobachten, dass es kaum bis keine | |
Konsequenzen bei anderen gab. Oft sind es sogar die Betroffenen, die dann | |
aus dem Musikbetrieb herausgedrängt werden. Wir wollen mit der anonymen | |
Umfrage also einen Raum schaffen, wo Erfahrungen angstfrei geschildert | |
werden können. Das kann aber nur der erste Schritt sein. | |
Wie geht es weiter? | |
Wir müssen wegkommen von den Einzelfällen. Machtmissbrauch in der Musik | |
sollte wissenschaftlich erfasst werden. Es gibt kaum Daten dazu. Wie sollen | |
da Personen zur Verantwortung gezogen werden? Wir haben außerdem [3][einen | |
Forderungskatalog entwickelt] und diesen Mitte Dezember an alle | |
Hochschulleitungen sowie Rektorate der DACH-Region und die | |
Hochschulrektorenkonferenz geschickt. Einige Rektorate zeigen sich | |
kooperationswillig, von vielen gibt es allerdings keine Reaktion. | |
Die Initiative stellt elf konkrete Forderungen. Welche davon sind zentral? | |
Wir setzten auf Sensibilisierung. Lehrkräfte sind oft Koryphäen an ihrem | |
Instrument, aber haben keine pädagogische Ausbildung. Wir brauchen | |
Weiterbildung für dieses spezielle Nähe-Distanz-Verhältnis in der | |
musikalischen Lehre. Und wir müssen bei Studierenden die Hemmschwelle | |
abbauen, sich gegen Machtmissbrauch zu wehren, und Stellen schaffen, wo | |
ihnen im geschützten Raum zugehört wird und sie mehrsprachig zu ihren | |
Rechten aufgeklärt werden. Außerdem brauchen wir regelmäßige und | |
unabhängige Evaluationen von Lehrveranstaltungen, damit sichtbar wird, wenn | |
es Probleme gibt. Oft ist es Lehrpersonen freigestellt, ihren | |
Einzelunterricht bewerten zu lassen. So ändert sich nichts. | |
Heißt das, die Lehre muss sich grundsätzlich ändern? | |
Jein. Machtstrukturen per se sind nicht das Problem, sondern deren | |
Missbrauch. Was wir durchsetzen wollen, ist eine klare Benennung des | |
Machtgefälles zum Schutz Studierender und Konsequenzen für Täter_innen. Das | |
stärkt auch die Machtposition guter Lehre. Die Graubereiche dürfen nicht | |
unbenannt bleiben – denn genau da sind Täter_innen geschützt und | |
Machtmissbrauch passiert unbemerkt. | |
* Name geändert | |
Hinweis: Die Initiative macht die Umfrageergebnisse aus Sorge vor | |
juristischen Komplikationen wegen den darin teils formulierten Vorwürfen | |
gegenüber Dozierenden nicht öffentlich zugänglich. Wir haben uns die | |
Auswertung der Ergebnisse angesehen. | |
27 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Ermittlungen-gegen-Lindemann-eingestellt/!5954836 | |
[2] https://www.soscisurvey.de/sturahfmweimarMacht/ | |
[3] https://www.fzs.de/forderungskatalog-zur-pravention-und-intervention-von-ub… | |
## AUTOREN | |
Olivia Samnick | |
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