Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kontroverse um Autorin Adania Shibli: Lob des Universalismus
> Die Aufregung über einen Buchpreis für Adania Shibli zeigt, wie
> konjunkturabhängig hierzulande die Verteidigung des freien Wortes ist.
Bild: Schriftstellerin Adania Shibli
Gerade öffnet wieder die Frankfurter Buchmesse ihre Türen – zu einem Ort,
der eine utopische Qualität besitzt, weil sich in seinen nüchternen Hallen
die intellektuelle Welt versammelt. Einmal im Jahr verdichtet sich in
Frankfurt am Main kosmopolitische Vielfalt zu universalistischer Realität.
Zwar beherrscht auch hier eine Hierarchie globaler Marktmacht das Bild –
die riesigen Stände der Konzernverlage, die Akkordarbeit im Literarischen
Agentenzentrum, die kalte staatliche Repräsentanz (die Melange am
österreichischen Stand ausdrücklich ausgenommen) –, aber zugleich erlauben
auch viele Nischen, Unbekanntes zu entdecken. In Frankfurt kann man,
Neugierde und guten Willen vorausgesetzt, die kaum Sichtbaren sehen und
jene ohne laute Stimme vernehmen.
Dazu gehören vor allem Stimmen aus dem Globalen Süden, die hierzulande
meist nur dann rezipiert werden, wenn es einen aktuellen politischen Anlass
gibt. Doch dieser Tage beweist ein Skandal im provinziellen Wasserglas, wie
brüchig diese Universalität ist, wie konjunkturabhängig die Verteidigung
des freien Wortes. Solch engstirnige Aufregung sollte mit Missachtung
gestraft werden, würde sie nicht exemplarisch aufzeigen, wie sehr der
Diskurs in diesen Breiten um eigene Befindlichkeiten, um eitle
Positionierung und tribale Selbstgerechtigkeit kreist.
Was ist passiert? Eine hervorragende [1][israelisch-palästinensische
Autorin] hat einen Roman geschrieben, der Gewalt gegen Frauen thematisiert,
als Leerstelle der Wahrnehmung, als nachwirkendes Trauma. Sie hat mit
literarischen Mitteln aufgearbeitet, wie sehr eine grausige Tat, eine
menschenverachtende Grenzüberschreitung (israelische Soldaten vergewaltigen
und ermorden ein Beduinenmädchen) die Erinnerung kontaminiert. Ein immens
wichtiges Thema in einem Jahr, in dem uns erneut bestialische Taten
(seitens russischer Soldaten und Söldner, seitens der Hamas) nicht nur
unmittelbar schockieren, sondern auf Jahrzehnte hinaus wirken werden, als
Gift in den Blutbahnen der Betroffenen, als Tumor in der universellen
Empathie.
„Seine rechte Hand lag auf ihrem Mund, seine linke hielt sich an ihrer
rechten Brust fest, und das Quietschen des Bettes hallte durch die Stille
des anbrechenden Morgens, wurde lauter und kräftiger, wieder begleitet vom
Geheul des Hundes. Als das Quietschen schließlich verstummte, ging das
laute Jaulen vor der Tür noch lange Zeit weiter.“
Die beschriebene Vergewaltigung, am 13. August 1949 in Israel tatsächlich
geschehen, wiederholt sich seither weltweit in wesentlichen Aspekten an
vielen anderen Tagen. „Eine Nebensache“ ist eine Nahaufnahme jener
Erniedrigung und Vernichtung von Frauen, die mit Kriegen einhergeht. Und es
zeigt zudem das zerrüttete Verhältnis verrohter Menschen zum Kreatürlichen
auf.
Tiere spielen eine zentrale Rolle: heulende Hunde, aufgeschreckte Kamele,
Vögel im einsamen Flug und ein Skorpion, der die Hauptfigur beißt, mit
schmerzhaften Folgen. Worauf dieser in einer unvergesslichen Szene alles
zertritt, was in seiner Hütte fleucht und kreucht. Selten habe ich einen
Text gelesen, bei dem Nationalität und Religion der Figuren eine so geringe
Rolle spielen. Der Roman ist in einem existentialistischen Duktus
geschrieben, viel näher an Albert Camus als an autofiktionaler
Zeugnisliteratur.
„Zu hören waren nur noch das unterdrückte Schluchzen eines Mädchens, das,
eingerollt in seine schwarzen Kleider, wie ein Käfer am Boden kauerte,
sowie das Rascheln der Akazienblätter und des Schilfs, während die Soldaten
diesen grünen Flecken inmitten endloser kahler Sanddünen nach Waffen
absuchten und er etwas Dung begutachtete.“
Verständlich, dass [2][Adania Shiblis Roman „Eine Nebensache“] mit dem
diesjährigen LiBeratur-Preis ausgezeichnet worden ist, einem Preis für
Literatur von Autorinnen aus dem Globalen Süden. Die Verleihung sollte auf
der Buchmesse stattfinden, doch sie wurde kurzfristig abgesagt, ein
Bärendienst an der viel beschworenen Freiheit des Wortes (die als Konzept
nur zum Tragen kommt, wenn uns etwas zugemutet wird – für Sonntagsreden
brauchen wir sie nicht).
An dieser Stelle muss ich klarstellen, dass ich voreingenommen bin, weil
der verantwortliche Verein Litprom inhaltlich mit der Bestenliste
„Weltempfänger“ verknüpft ist, die ich vor Jahren ins Leben gerufen habe,
um vierteljährlich herausragende Werke aus Afrika, Asien und Lateinamerika
zu empfehlen.
Anstatt nun zu diskutieren, wie wir die Gewaltspirale im Nahen Osten
mithilfe literarischer Werke profunder verstehen können, hat dieser Preis
eine Rhetorik der Hysterie provoziert (leider auch [3][in der taz)]. Lauter
Diffamierungen, die mit dem Roman kaum etwas zu tun haben und der Autorin
absichtlich Unrecht tun, denn wie der Berenberg Verlag klarstellt,
verteidigt sie entschieden die Autonomie ihrer Literatur, indem sie
Einladungen von aktivistischen Gruppen grundsätzlich ablehnt. Wer diesem
Roman Antisemitismus oder gar Menschenverachtung vorwirft, der projiziert
seine eigenen Vorurteile auf das Werk.
Das wäre eine traurige Nebensache, wenn es nicht Ausdruck einer
grundsätzlichen Malaise wäre. Wir betrachten die Welt – nicht nur bei
Kriegen, auch bei Migration oder Energieversorgung – durch die Brille
kleingeistigen Selbstinteresses und entfernen uns zunehmend von den
Idealen, die allein eine Lösung der globalen Verteilungskämpfe und
Zerstörungsmechanismen anbieten: universell geltende Rechte und
kosmopolitische Empathie.
Gleichzeitig wurde in Berlin der [4][Emir von Katar] empfangen. Während die
Dichterin ihren Preis nicht entgegennehmen darf, verkündet die Staatsräson:
„Es wäre unverantwortlich, in dieser dramatischen Lage nicht alle Kontakte
zu nutzen, die helfen können.“ Kurzum: Kontakt mit Unterstützern von
Terror: gut; Auszeichnung von Menschen, die Terror sensibel beschreiben:
schlecht.
17 Oct 2023
## LINKS
[1] /Debatte-um-Autorin-Adania-Shibli/!5965811
[2] /Palaestinensische-Autorin-Shibli/!5966310
[3] /Debatte-um-Autorin-Adania-Shibli/!5965811
[4] /Nach-Hamas-Angriff/!5966163
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Schlagloch
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Palästina
Hamburg
Schlagloch
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
Antisemitismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gastgeber über neuen Roten Salon Hamburg: „Marxismus und Club-Musik“
Reden über linke Politik (und gleich noch ein paar Verlagen helfen):
Mit-Gastgeber Michael Hopp über den erstmals eröffnenden „Roten Salon
Hamburg“.
Angriffe auf die Meinungsfreiheit: Unanfechtbares anfechten
Freiheit heißt, auch die Meinungen zu ertragen, die wir ablehnen. Verbote
und vorgeschriebene Bekenntnisse führen zur Entmündigung der Gesellschaft.
Antisemitismus in Deutschland: Sorge vor Flächenbrand
In mehreren Städten setzen sich antiisraelische Proteste fort. Die Polizei
reagiert mit Verboten. Die Linke fordert eine differenzierte Überprüfung.
Palästinensische Autorin Shibli: Preisverleihung verschoben
Auf der Frankfurter Buchmesse sollte die palästinensische Autorin Adania
Shibli mit einem Preis ausgezeichnet werden. Nach Protesten wird das jetzt
verschoben.
Debatte um Autorin Adania Shibli: Schatten auf der Buchmesse
Kann man einen Roman auszeichnen, der Israel als Mordmaschine darstellt?
Dieser Diskussion muss sich die Frankfurter Buchmesse stellen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.