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# taz.de -- Laien in der Wissenschaft: Die Amateurliga
> Bernhard Weßling ist Chemiker von Beruf – und Kranichforscher aus
> Berufung. Ein engagierter Laienwissenschaftler.
Bild: Bernhard Weßling, der Kranichforscher
Eine halbe Stunde Verspätung, das sei kein Problem, sagt Bernhard Weßling
zur Begrüßung, ja im Grunde ein Geschenk, so habe er noch ein Telefonat
führen können. Denn Zeit, die ist für ihn zum Nutzen da.
Kürzlich ist sein neues Buch erschienen, „Was für ein Zufall!“. Geschrieb…
hat er es deshalb, weil zuvor kein populärwissenschaftliches Buch über
Entropie und Nichtgleichgewichtsthermodynamik existiert habe. Kein!
populärwissenschaftliches! Buch! – jedes Wort betont in ehrlichem
Erstaunen.
Also machte er sich ans Werk, und nach sieben Jahren hatte er sie zu Papier
gebracht, die „Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“, wie
der Untertitel anpreist. Wenn er dann aus seinem Leben erzählt, davon, was
er in 71 Jahren bislang gemacht hat, dann kommt einem der Gedanke, dass die
Zeit womöglich verschiedene Wesen hat, bei einigen luftiger gefüllt, bei
anderen praller.
Wie sonst wollte man erklären, dass einer nicht nur Vater ist, nicht nur
Unternehmer, sondern sich als studierter Chemiker auch noch – in seiner
freien Zeit gewissermaßen – zum Kranichforscher gemausert hat? Dass er die
Zeit, wenn nicht gefunden, dann sie sich genommen hat, ein Schutzprogramm
für die Vögel zu leiten, ihr Verhalten zu erforschen und eigens eine
Methode zu entwickeln, mit der er die Tiere anhand ihrer Rufe
identifizieren kann? Wie sonst wollte man verstehen, dass manche Menschen
sich derart in ein Thema eingraben, dass sie von Wissensuchenden zu
Wissenschaffenden werden?
## Vater, Unternehmer, Chemiker und Kranichforscher
Es ist schwierig, einen treffenden Begriff zu finden für Menschen wie
Bernhard Weßling, und selbst Peter Finke weiß so recht keinen, obwohl er
Wissenschaftstheoretiker ist und schon zwei Bücher geschrieben hat über die
– ja, wie denn nun: Citizen Scientists? Laienforscher:innen?
Amateurwissenschaftler:innen? „Laien und Amateure sind eben ‚nur‘ Laien u…
‚nur‘ Amateure; ein vermeintlich leichtes Anzeichen für die Zweit- oder
Drittklassigkeit der damit verknüpften Forschung“, schreibt er in seinem
Buch „Citizen Science – das unterschätzte Wissen der Laien“.
Spricht man hierzulande von Citizen Science, also Bürger:innenwissenschaft,
sind meist Projekte gemeint, bei denen Menschen unter der Anleitung von
Berufswissenschaftler:innen Fleißarbeit erledigen – „eine Art
gehobenes Freizeitvergnügen“, schreibt Finke.
## Paradedisziplin der Laienwissenschaft
Als der Begriff Citizen Science aufkam, vor etwa hundert Jahren, meinte er
noch eine für die Allgemeinheit verständliche Darstellung von Wissenschaft.
Erst in den 90er Jahren bekam er seine heutige Konnotation. Nur langsam
öffnen sich Politik und westliche, akademisch geprägte Gesellschaften für
andere Formen des Wissenserwerbs, etwa die indigener Gemeinschaften – oder
die autodidaktischer Forscher:innen wie Bernhard Weßling.
Mit der Ornithologie hat sich der Chemiker die Paradedisziplin der
Laienwissenschaft ausgesucht, meint Finke. Sie vereine „Entdeckerlust,
attraktive Objekte, die Rätsel aufgeben und Freude und Sorgen auslösen, das
Sammeln von Beobachtungen und die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, um
Schutzmaßnahmen zu organisieren.“
1982 zog Weßling nach Bargteheide, nördlich von Hamburg und nah beim
Duvenstedter Brook, einem Naturschutzgebiet. Der eine Sohn war vier Jahre
alt, der andere konnte gerade laufen. Beim Spazierengehen hörte Weßling
erstmals diese eindrucksvollen Rufe und wollte wissen, welche Vögel das
seien. So ging es los mit dem Wissensdurst und mit dem Aufstehen um 3 Uhr
in der Früh, um vor Morgengrauen im Brook zu sein und die spektakulären,
scheuen Vögel zu beobachten. Danach Frühstück, dann in die Firma, abends
früh genug nach Hause fürs Familienleben, danach nochmals Arbeit. Es hätte
beim Beobachten bleiben können.
## Warum? Wissenschaftliches Denken!
Doch das reichte Weßling nicht. Denn ohne die einzelnen Tiere unterscheiden
zu können, warf das Beobachten mehr Fragen auf, als es beantwortete. Ist
dieses Paar dasselbe, das letztes Jahr auf dieser Wiese brütete? Ist dieser
allein umherstreunende Kranich einer der Jungvögel aus dem Vorjahr? Also
sinnt Weßling darauf, die Tiere bioakustisch zu identifizieren. Er tüftelt
ein Programm aus und verbringt in zehn Jahren hunderte Stunden mit dem
Aufnehmen und aberhunderte mit dem Auswerten der Frequenzprofile. Was hat
ihn angetrieben?
Weßling denkt kurz nach und blickt vom Korbstuhl aus durch seinen Garten
auf eine Pferdeweide, über die erst ein Fuchs streift und später,
natürlich, Kraniche hinwegziehen. Wenn er etwas beobachte, sagt er dann,
das mit dem, was er wisse oder zu wissen meine, nicht übereinstimme – dann
frage er: warum? Wissenschaftliches Denken nennt er das.
Der Wissenschaftshistoriker Robert E. Kohler spricht von [1][residential
knowledge], übersetzbar vielleicht mit ortsansässigem Wissen. Ein Wissen,
das sich aus der konkreten Erfahrung speist. Es ist der Citizen Teil in
[2][Citizen Science]: Bürger:innen leben dort, wo es konkrete Tiere,
Pflanzen, Zusammenhänge zu erkunden gibt. Wo das Forschungsgebiet dagegen
abstrakt ist oder „in besonders hohem Maße labor-, geräte- oder
mittelabhängig“, schreibt Peter Finke, „kann Citizen Science mit der
professionellen Wissenschaft nicht mithalten“.
## Work hard, pause hard
Weßling brauchte lediglich ein Fernglas, ein Mikrofon und ein Aufnahmegerät
– und reichlich Zeit. Woher er die nahm? Er erklärt das mit seiner
Arbeitsweise, die im Grunde seine Lebenseinstellung ist. Work hard, pause
hard, denn seine Disziplin hört bei der Erholung nicht auf.
Fernsehen schaut er so gut wie nie, höchstens „Tagesschau“ und
„Sportschau“. In Kneipen geht er nicht, auch nicht auf Partys, und wenn
Besuch kommt, dann maximal vier Gäste, nur so könne man sich vernünftig
unterhalten. Was er nicht so betont, ist, dass seine damalige Frau sich in
Vollzeit um die beiden Söhne kümmerte. Auch wenn Weßling, darauf legt er
Wert, abends meist zu Hause war, um die beiden mit ins Bett zu bringen.
Wenn er so von sich erzählt, schwankt man zwischen Bewunderung für seine
Zielstrebigkeit, seine Willenskraft und Produktivität einerseits und dem
Gefühl, dass hier einer gern Geschichten aus seinem Leben erzählt, deren
Held er ist – gelehrt, hart arbeitend, verkannt.
## Die Arbeit von Amateuren wird oft ignoriert
Ihm höre niemand zu, sagt er, weder in der Chemie noch in der Ornithologie.
Das habe ihn beinahe krank gemacht, denn wer nur abgelehnt und ausgegrenzt
wird, werde depressiv. Letztlich davor bewahrt habe ihn, dass er auf Thomas
Kuhns Konzept der wissenschaftlichen Paradigmen gestoßen sei. Demnach haben
Erkenntnisse nur dann eine Chance auf Anerkennung in der Fachgemeinde, wenn
sie sich innerhalb eines herrschenden Theoriekonstrukts bewegen. Rütteln
sie dagegen an grundlegenden Überzeugungen, stoßen sie auf Ablehnung. Ein
historisches Beispiel ist etwa Kopernikus’ Theorie, die Planeten kreisten
um die Sonne, und nicht – wie bis dahin angenommen – um die Erde.
Bei den Kranichen habe er sich gewünscht, seine Bioakustikmethode
weiterzugeben, schließlich ermöglicht sie es, Individuen zu erkennen, ohne
die Zugvögel durch einen Ring ums Bein zu stören. Seine Erkenntnisse – etwa
dass Kraniche sich durchaus ohne ersichtlichen Grund neu verpaaren und
mitnichten als Symbol für lebenslange Treue taugen – sieht er ebenfalls
nicht berücksichtigt.
Der NABU, in Deutschland seit gut 50 Jahren die Instanz in Sachen
Kranichschutz und -forschung, ging nicht auf eine Anfrage der taz ein.
„Meistens ignoriert man die Arbeit der Amateure, weil man meint, sie gar
nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen“, meint Peter Finke. „Die Anerkennung,
die ich vermisse, ist die, dass man sich erst mal fragt: Wer ist denn ein
Wissenschaftler? Und dass man dabei nicht nur an Berufswissenschaftler
denkt, sondern auch an andere, die sehr gute Expertise auf einem Gebiet
haben.“
## Weßling – eine Art Mischwesen
So war es, bevor sich die Wissenschaft im späten 19. Jahrhundert
professionalisierte. Damals galten Gelehrte, die keiner Institution
angehörten, oftmals sogar als glaubwürdiger, weil sie unabhängig von
finanziellen Interessen waren.
Mit demokratischer Wissenschaft hatte dies allerdings wenig zu tun, denn
die Unabhängigkeit der Privatgelehrten rührte meist daher, dass sie reich
genug waren, um nicht arbeiten zu müssen. Lehrstühle an Universitäten
wurden damals mit Leuten besetzt, die auf dem entsprechenden Gebiet
arbeiteten und gut waren. „Aus diesen Amateuren, diesen Mischwesen,
entstand dann die Berufswissenschaft“, sagt Finke.
Weßling ist auch eine Art Mischwesen – und hat mit seiner Kranichforschung
in Übersee durchaus Anerkennung gefunden. In den USA bat ihn etwa die
International Crane Foundation, die Rufe stark gefährdeter Schreikraniche
aufzunehmen, um so aufwändig gezüchtete Jungvögel dazu zu bringen, einem
Ultraleichtflugzeug zu folgen, das ihnen ihre Zugroute zeigte. Der Gründer
der Organisation, der Biologe George Archibald, sagte, Weßling habe einen
„beträchtlichen Beitrag zu unserem Verständnis dieser bemerkenswerten
Vögel“ geleistet.
3 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.cambridge.org/core/journals/science-in-context/article/abs/intr…
[2] /Buergerforschung-im-Wandel/!5543190
## AUTOREN
Teresa Kraft
## TAGS
Wissenschaftler
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Chemie
Citizen Science
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