# taz.de -- Fahrradtraining für erwachsene Frauen: Freiheit auf zwei Rädern | |
> Fahrradfahrende werden Teil der Stadtcommunity, aber nicht alle fahren | |
> seit ihrer Kindheit. Ein Verein vernetzt Frauen, die es lernen wollen. | |
Bild: Ein Fahrradtraining des Bike Bridge e.V. nur für Frauen | |
Den linken Fuß noch auf dem grauen Kiesweg, tastet Ayah (Name geändert) mit | |
ihrem rechten Fuß nach dem Pedal. Er rutscht ab, das Pedal flattert um die | |
eigene Achse. Konzentriert dreht Ayah das rechte Pedal mit ihrem Fuß wieder | |
nach oben. Sie setzt den rechten Fuß auf, drückt das Pedal kraftvoll durch, | |
hebt den linken Fuß vom Boden, stellt sich in die Pedale. Dann beginnt sie | |
langsam zu treten. So wurde ihr das Losfahren [1][mit einem Fahrrad] | |
erklärt: Schritt für Schritt, Tritt für Tritt. | |
Ayah ist 18 Jahre alt und geht noch zur Schule. Sie lebt [2][mit ihrer | |
Familie] seit zweieinhalb Jahren in Deutschland, nachdem sie den Irak | |
verlassen mussten. Diesen Sommer will sie im Friedenspark [3][im Leipziger | |
Osten Radfahren lernen.] In einem achtwöchigen Angebot des Projekts Bike & | |
Belong können hier rund ein Dutzend Frauen* Fahrradfahren lernen. Jede | |
Woche treffen sie sich und üben zwei Stunden lang mit ehrenamtlichen | |
Trainer:innen. | |
Das Angebot kommt vom 2017 in Freiburg gegründeten Verein Bike Bridge. | |
Shahrzad Enderle, eine Sportwissenschaftlerin aus Freiburg, hatte bemerkt, | |
dass sich auf dem Hof einer Unterkunft für Schutzsuchende nur Kinder und | |
Männer aufhielten. Sie wollte daraufhin ein Angebot schaffen, das auch | |
Frauen* aus der Unterkunft verbindet, indem sie gemeinsam Radfahren lernen. | |
Mittlerweile hat Bike Bridge in Deutschland acht Standorte. Seit 2022 sitzt | |
der Verein in Leipzig und bietet Übungen auf Anfängerinnen- und | |
Fortgeschrittenen-Niveau sowie einen Kurs an einer Schule an. | |
## Im Irak fahren Frauen kein Fahrrad | |
Beim Kurs im Leipziger Friedenspark bittet Ayah mich, ihr zu helfen. Ich | |
halte sie hinten am Sattel und an der Lenkermitte fest. Immer wieder | |
versucht sie loszufahren. Gleichmäßig treten, den Körper auf den Sattel | |
absenken, den Blick von den Füßen heben: so viele Bewegungsabläufe, denen | |
sich routinierte Radfahrer:innen gar nicht mehr bewusst sind. Doch | |
Radfahren zu lernen jenseits des Kleinkindalters ist eine riesige | |
Herausforderung. | |
Wenn man Ayah danach fragt, warum sie den Kurs besucht, antwortet sie: | |
„Heutzutage ist es nicht so normal, dass Frauen im Irak Fahrrad fahren“, | |
und fügt hinzu, dass es für unsere Welt ja besser sei, als Auto zu fahren. | |
Laut Judith Beigel, Projektleiterin von Bike & Belong in Leipzig, zeige die | |
Praxis, dass es oft Frauen* mit Migrationserfahrungen wie Ayah sind, die | |
das Angebot wahrnehmen. Denn „die meisten Frauen, die hier schon ewig leben | |
oder hier geboren sind, haben als Kind Fahrradfahren gelernt“. Offen seien | |
die Angebote aber für alle Personen, die sich als Frau definieren. | |
Dass die meisten Menschen, 97 Prozent, in Deutschland Radfahren können, | |
bestätigt auch die Studie „Fahrradfahren in Deutschland“ aus dem Jahr 2016, | |
die vom Fahrradhersteller Rose Bikes in Auftrag gegeben wurde. Mehrere | |
Teilnehmer:innen des Bike-&-Belong-Angebots erzählen davon, das Gefühl | |
zu haben, alle anderen um sie herum würden Fahrrad fahren. Mit dem | |
Radfahren lernen sie etwas, wodurch sie sich in öffentlichen Räumen ihrem | |
Umfeld zugehöriger fühlen können. | |
Zwischendurch, zu Beginn und zum Abschluss des Angebots, finden sich die | |
Frauen* in einer Runde auf der Wiese zusammen. Sie teilen sich Essen, | |
spielen Spiele und erzählen einander von sich: Arabisch, Französisch, | |
Deutsch, Englisch und Spanisch sind nur ein Teil der verschiedenen | |
Sprachen, die hier gesprochen werden. Sie treffen aufeinander, aber werden | |
nicht zum Hindernis: Fürsorglich wird bei Verständnisproblemen mit | |
Übersetzungen nachgeholfen. | |
## 40 000 Radler in Leipzig | |
Nachdem ich Ayah beim Losfahren stütze, beginnt sie zügig zu treten. Dann | |
wünscht sie sich, dass ich loslasse. Die Hand zur Sicherheit noch hinter | |
Ayah, renne ich nebenher. Ayah fährt Fahrrad. Nachdem sie von einer | |
Wegkreuzung zur nächsten gefahren ist, hält sie an, macht noch ein paar | |
Schritte, bis der übrige Schwung einkehrender Ruhe weicht. Ihr Gesicht | |
strahlt. | |
Mit Ayah wird fortan eine Person mehr durch Leipzig radeln. Laut Auskunft | |
der Stadt Leipzig fahren allein an den elf installierten Fahrradzählstellen | |
in der Innenstadt im Sommer täglich rund 40.000 Menschen vorbei. Diese | |
Zahlen zeigen: im flachen, grünen Leipzig ist Radfahren eine wichtige | |
Alltagskompetenz. Durch Bike & Belong können mehr Menschen diese Fähigkeit | |
erlangen. Judith Beigel erzählt von der Vision des Vereins, das Stadtbild | |
„diverser zu machen“. Es gehe darum, dass Menschen „Teil der | |
Stadtcommunity“ werden können, weil sie sich bewegen wie alle anderen auch. | |
Außerdem schenkt Radfahren Mobilität, ohne auf öffentliche Verkehrsmittel | |
angewiesen zu sein. | |
Weil die Fahrradgruppe durchmischt ist von Menschen mit und ohne | |
Migrationserfahrung, die verschiedene Sprachen sprechen, ist Bike & Belong | |
ein integratives Projekt. Doch es werde laut Judith Beigel vermieden, von | |
Integration zu sprechen, um nicht das Narrativ zu bedienen, integrative | |
Projekte seien einseitiges Handeln für bedürftige Menschen. Der Fokus solle | |
nicht darauf liegen, etwas für andere Menschen zu machen. Es gehe vielmehr | |
darum, im Miteinander voneinander zu lernen und partizipative Räume zu | |
schaffen. | |
Auch Sylvia Gössel, Mitarbeiterin des Referats für Migration und | |
Integration der Stadt Leipzig, findet „niederschwellige Projekte rund um | |
Empowerment und Begegnung“ im Bereich Integration sinnvoll. Es sei ideal, | |
wenn die Projekte auf Partizipation ausgelegt und bedarfsorientiert sind. | |
Das bedeutet, es sollte sich um Aktivitäten handeln, „die die Menschen auch | |
brauchen“. | |
## Fahrräder werden selbst repariert | |
Zwei Wochen später erzählt Ayah, dass sie sich mit dem Rad nur im | |
Straßenverkehr noch unsicher fühle. Sie nimmt jetzt auch am Programm für | |
Fortgeschrittene des Bike-&-Belong-Projekts teil. Dort lernen Ayah und die | |
anderen neben dem tatsächlichen Radfahren auch Verkehrsregeln, um sich bei | |
Begegnungen mit anderen Verkehrsteilnehmer:innen sicher und | |
regelkonform verhalten zu können. | |
Die verwendeten Räder stellt dabei Bike Bridge. Immer wieder spenden | |
Privatpersonen Räder, die dann in Reparaturworkshops mit den | |
Teilnehmer:innen repariert und auf Fahrtüchtigkeit geprüft werden. Die | |
Teilnemer:innen können sie gegen einen Eigenbeitrag von 25 Euro | |
mitnehmen. | |
Die Stimmung ist gut, als die Teilnehmer:innen und Trainer:innen der | |
Fortgeschrittenen-Gruppe am Ende wieder zusammenkommen. Auf die Frage, wie | |
es ihnen heute gefallen hat, recken sie kollektiv ihre Daumen gen Himmel. | |
Die Teilnehmer:innen, die regelmäßig kommen, können am Ende der acht | |
Termine Fahrrad fahren. Manche wollen das Radfahren im Alltag nutzen, | |
andere fahren erst mal gar nicht – aber sind sich bewusst über ihr Können. | |
Auch dieses Wissen allein kann empowernd wirken, wie sich an den | |
glücklichen Gesichtern der Teilnehmer:innen ablesen lässt. | |
Ayah jedenfalls will weiterfahren. Sie möchte sich unbedingt eines der | |
Räder aus dem Reparaturworkshop kaufen. Auch sie wird künftig die Sensoren | |
an den Fahrradzählstellen in Leipzig auslösen. | |
26 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Emma Salome Heideker | |
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