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# taz.de -- Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen: Falschen Propheten Grenzen au…
> In Thüringen hat die AfD eine gewonnen geglaubte
> Oberbürgermeister-Stichwahl verloren. Daraus lässt sich viel lernen.
Bild: Jörg Prophet am Wahltag in Nordhausen
Nordhausen/Berlin taz | Als das vorläufige Endergebnis um kurz nach acht
Uhr am Sonntagabend bekannt war, brach endloser Jubel aus vielen
Unterstützer*innen im Ratssaal von Nordhausen hervor. Der für sechs
Jahre wiedergewählte parteilose Amtsinhaber Kai Buchmann bekam Küsschen,
Blumen und schüttelte unter Freudenschreien zahlreiche Hände.
Auch wenn hier nur über die Oberbürgermeisterwahl einer
40.000-Einwohnerstadt in Thüringen entschieden wurde, zeigte der nicht
abreißen wollende Jubel, dass es um mehr ging. Denn auch für die extrem
rechte AfD stellt der Abend eine Zäsur dar: Zwar versuchten der unterlegene
AfD-Kandidat Jörg Prophet ebenso wie sein Parteichef Tino Chrupalla, sich
nach der verlorenen Stichwahl als gute Verlierer zu präsentieren („Der
Souverän hat entschieden“) – für die AfD bedeutet Nordhausen entgegen all…
Beteuerungen aber eine schmerzhafte Niederlage.
Vor der Wahl hatte eigentlich alles für die AfD gesprochen: der Bundestrend
in den Umfragen, ein angeschlagener Gegenkandidat mit einem
Disziplinarverfahren am Hals und mit keiner richtigen Wahlkampagne, dafür
viel Streit im Stadtrat. Es sah verdammt schlecht aus.
Buchmann ist seit 2017 Oberbürgermeister von Nordhausen, er hat dort
allerdings nicht den besten Ruf: Im Frühling war er vorläufig suspendiert
worden – er soll Stadtratsbeschlüsse nicht umgesetzt und seine
Stellvertreterin Alexandra Rieger (SPD) gemobbt haben. Nach einem
Gerichtsentscheid ist Buchmann seit August wieder im Amt, das
Disziplinarverfahren gegen ihn läuft aber weiter.
## Keine expliziten Wahlaufrufe von CDU, SPD und FDP
Der AfD-Kandidat profitierte davon und hatte den ersten Wahlgang mit fast
20 Prozentpunkten überdeutlich gewonnen. Zugleich verleiht er seinem – laut
Verfassungsschutz geschlossen geschichtsrevisionistischen – Weltbild eine
biedere Fassade. Beobachter*innen schätzten die Chancen für den
Amtsinhaber deswegen als äußerst gering ein. Umso spannender ist die Frage,
warum in Nordhausen ein demokratischer Schulterschluss gegen die AfD
trotzdem geklappt hat – trotz wohlgemerkt besorgniserregend bleibender 45
Prozent für den rechtsextremen AfD-Kandidaten.
Der Schlüssel liegt auch im lauten unbändigen Jubel der feiernden
Unterstützer*innen im Ratssaal kurz nach Acht. Sie feierten nicht nur
den neuen Oberbürgermeister, sondern auch sich selbst: Denn nicht Buchmann
allein hatte diesen Erfolg zu verantworten – es war vielmehr ein
zivilgesellschaftliches Bündnis, das in einem Kraftakt für ihn die
Mobilisierung übernommen hatte.
[1][Buchmann selbst hatte kürzlich noch gesagt], dass er gar keine Zeit für
Wahlkampf habe neben seiner Arbeit im Rathaus. Er hatte weder
Wahlkampfstände geplant, geschweige denn Kundgebungen organisiert oder an
welchen teilgenommen. Ebenso gab es für ihn keine expliziten Wahlaufrufe
aus den anderen Parteien – mal abgesehen von den Grünen und der
Linkspartei. Die SPD rief lediglich dazu auf, nicht die AfD zu wählen, CDU
und FDP appellierten nur, überhaupt wählen zu gehen.
## Zivilgesellschaft statt Allparteienbündnis
Im thüringischen Sonneberg, wo mittlerweile der erste AfD-Landrat amtiert,
hatte der CDU-Kandidat selbst populistische Talking Points der AfD
übernommen. Und während sich dort ein Allparteienbündnis gegen die AfD eher
zweckmäßig als glaubwürdig formierte, hatte sich in Nordhausen kurzerhand
das zivilgesellschaftliches Bündnis „Nordhausen zusammen“ organisiert, um
eine Wahl des rechten Propheten zu verhindern.
Im Bündnis vernetzten sich zahlreiche wegen der AfD besorgte Bürger*innen.
Sie tauschten sich in Chatgruppen aus, mobilisierten auf Demos für die
Stichwahl und rüttelten die Stadtgesellschaft mit einem kollektiven
Aufschrei auf. In einem gemeinsamen offenen Brief richteten sie einen
„Appell an Nordhausen gegen die Spaltung der Gesellschaft“ mit knapp 4.500
Unterzeichner*innen. Als Abschluss organisierten sie ein Stadtfest mit
zahlreichern Künstler*innen am Tag vor der Stichwahl.
Beteiligt waren am Bündnis soziale Vereine, der Studierendenrat der
Hochschule, Künstler*innen, Theaterschaffende, Stadtratsmitglieder und
Privatpersonen. Besonders öffentlichkeitswirksam waren dabei die Warnungen
des Historikers Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Gedenkstätte des KZ
Dora-Mittelbau, das sich auf dem Stadtgebiet Nordhausens befindet.
## Erinnerungspoltisch wäre Prophet fatal
Die Nazis hatten im Konzentrationslager Mittelbau-Dora mehr als 60.000
Menschen zur Rüstungsproduktion gezwungen, unter unmenschlichsten
Bedingungen kamen dabei mindestens 20.000 Menschen ums Leben. Wagner redete
auch bei der Gegendemo, als die AfD-Prominenz vor dem Rathaus
Geschichtsrevisionismus verbreitete, und gab zahlreiche Interviews, warum
Prophet als Bürgermeister für Nordhausen gerade in erinnerungspolitischer
Hinsicht fatal wäre.
Am Sonntagabend sagte Wagner der taz: „Ich bin unglaublich erleichtert.“
Das Ergebnis sei „absolut der demokratischen Zivilgesellschaft von
Nordhausen zu verdanken, die sich in den vergangenen Wochen für ein
vielfältiges und weltoffenes Nordhausen eingesetzt haben.“
Nach dem Erfolg des AfD-Kandidaten im ersten Wahlgang hatte die Stiftung
Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora viele Briefe von
Überlebendenverbänden und Angehörigen von KZ-Opfern erhalten. Manche hätten
angekündigt, im Falle eines AfD-Wahlsieges nicht mehr nach Nordhausen
fahren zu können, wie Stiftungsdirektor Wagner berichtete.
## Klare Abgrenzung gegenüber der AfD
Bereits Mitte September hatte Wagner angekündigt, Prophet die Teilnahme an
Gedenkveranstaltungen nicht zu gestatten, sollte er die
Oberbürgermeisterwahl gewinnen. Die Stiftung werde es Überlebenden und
Angehörigen nicht zumuten, bei Veranstaltungen auf Menschen wie Prophet zu
treffen.
Auch das Internationale Auschwitz-Komitee – ein Zusammenschluss von
Holocaust-Überlebenden, Organisationen und Stiftungen aus 19 Ländern –
äußerte sich vor der Oberbürgermeisterwahl sehr besorgt. Prophet trete zwar
„bürgerlich-harmlos“ auf, sei aber ein „lupenreiner Rechtsextremist“. …
Wahlsieg wäre für Überlebende der deutschen Konzentrations- und
Vernichtungslager so, als ob ihre Befreiung und ihr Leben danach infrage
gestellt würden, erklärte das Komitee.
Die Hochschule Nordhausen zeigte sich im Vorfeld der Stichwahl ebenfalls
beunruhigt. Insbesondere einige der internationalen Studierenden hätten in
Studienberatungsgesprächen bereits Bedenken „hinsichtlich möglicher
politischer Veränderungen“ geäußert, teilte eine Sprecherin gegenüber der
taz mit.
## „Schuldkult“ und „Systemlinge“
Auch wenn er sich öffentlich eher bieder präsentiert hatte, hat der
AfD-Kandidat Prophet insbesondere in Texten seinen rechtsextremen Kern
offenbart. Darin hatte er gegen angebliche „Scheineliten“ und „Systemling…
gehetzt und lupenreinen Geschichtsrevisionismus betrieben – und etwa vom
„Schuldkult“ geschrieben.
Aber nach dem großen Jubel gab es auch mahnende Stimmen: Die Thüringer
Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Mobit betonte auf X, ehemals
Twitter, dass die „kurzfristige Erleichterung“ nicht darüber hinwegtäusch…
dürfe, dass fast 50 Prozent der Wähler*innen einem Kandidaten ihre
Stimme gegeben hätten, „der Reichsbürger und Neonazis offensichtlich für
Gesprächspartner hält“.
Das Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) teilte mit,
der „glimpfliche Ausgang“ der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen sei zwar
ein „herber Schlag“ für die AfD und ein Zeichen, „dass die Mehrheit der
Bürger*innen die lokale und demokratische Kultur nicht der
rechtspopulistischen Agitation und einem blinden, generalisierten Frust
opfert“. Aber angesichts der vielen Stimmen für die AfD gebe es keinen
Grund zur Entwarnung, vielmehr sollte es „Ansporn für alle
Demokrat*innen sein, auch anderswo Rechtspopulismus zurückzudrängen und
Antidemokrat*innen zu Verlierer*inne zu machen.“
## Kein brauner Domino-Effekt
Das IDZ schäme sich „stellvertretend fremd für die erschreckend große
Minderheit von Nordhäuser*innen, die heute die falsche Wahl getroffen
haben“ – die Wahl eines Geschichtsrevisionisten ins Rathaus wäre in der
Stadt der KZ-Gedenkstätte auch ein empfindlicher internationaler
Ansehensverlust gewesen.
Die AfD hatte in den letzten Monaten angesichts ihres Höhenflugs in
Umfragen bereits einen rechten Domino-Effekt in den Kommunen
herbeifantasiert. Die erste gewonnene Oberbürgermeisterwahl sollte auch den
Auftakt fürs Wahljahr 2024 geben – in dem die AfD bei den Landtagswahlen in
Sachsen, Brandenburg und Thüringen stärkste Kraft werden will, nachdem man
bereits im thüringischen Sonneberg den ersten Landrat stellt und in
Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt einen Kleinstadtbürgermeister.
Entsprechend kraftmeierisch hatten sich AfD-Politiker vor dem Wahlabend
geäußert: Der Spitzenkandidat für die Europawahl, [2][Maximilian Krah],
hatte bei einer AfD-Demo vor dem Nordhausener Rathaus etwa noch getönt:
„Wer aus einer Stadtwahl wie Nordhausen eine deutschlandweite
Richtungsentscheidung macht, der kriegt seine Richtungsentscheidung – und
der kriegt sie so, wie er sie verdient.“ Nun, es kam genau so, aber anders,
als die AfD es sich vorstellte.
25 Sep 2023
## LINKS
[1] https://www.zeit.de/2023/40/erinnerungskultur-afd-nationalsozialismus-thuer…
[2] https://twitter.com/Martin_Debes/status/1706016502472740953
## AUTOREN
Gareth Joswig
Rieke Wiemann
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