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# taz.de -- Rugby-WM in Frankreich: Ei der Erkenntnis
> Die Rugby-WM hat einen idealen Spielort: Toulouse. In der Stadt wird der
> Sport gelebt, geliebt und zelebriert. Ein Ortsbesuch im Süden
> Frankreichs.
Bild: Kantersieg: Neuseelands Rieko Ioane (vorn) trägt seinen Teil zum 71:3 ge…
Auf dem Place du Pont Neuf erwacht gerade das Leben, als von der
gleichnamigen Brücke schon wieder die ersten Jubelschreie den morgendlichen
Frieden stören. Am Ufer der Garonne, wo sich in Toulouse die Fanzone für
die momentan laufende Rugby-WM befindet, hatte ein fünf Meter langes und
etwa drei Meter hohes Rugby-Ei geankert. Das Monstrum muss sich losgerissen
haben, denn nun rollt es unter dem Freudengeheul von einem Dutzend
Rugby-Fans aus Neuseeland durch die Brückenpfeiler hindurch den Fluss
hinunter.
Am Abend zuvor war auf der 220 Meter langen und ältesten Brücke der Stadt
noch alles voller Menschen gewesen. Die halbe Stadt schien auf den Beinen
zu sein, um sich [1][Frankreichs zweites WM- Gruppenspiel] gegen
Sparringspartner Uruguay auf der großen Leinwand oder in einer der
zahllosen Bars auf der Rue de Metz anzusehen. Im Sauvage Social Pub sitzt
inmitten von Franzosen auch Brad Rogers.
## Im Getümmel
Der massige Australier betreibt in der Nähe von Sydney eine Brauerei und
ist nur hier, um die einmalige Rugby-Atmosphäre von Toulouse zu inhalieren.
„In Marseille oder Paris geht die Weltmeisterschaft außerhalb der Spieltage
im Alltag fast ein wenig unter“, so der 54-Jährige. „Aber hier ist man
eigentlich von früh bis spät immer drin im Rugby-Getümmel.“
Toulouse ist die viertgrößte Stadt Frankreichs. Aber es liegt eben nicht an
der Küste – und die Pyrenäen, die sich unmittelbar südlich davon erheben,
scheinen sie in ihrem Schatten zu verbergen. „Die rosarote Stadt“ wie sie,
wegen ihrer prächtigen Architektur, auch genannt wird, ist bekannt für die
Basilika Saint-Sernin, ein bedeutender Wallfahrtsort auf dem Weg nach
Santiago de Compostela. Warum Toulouse allerdings für eine ganz andere Art
von Pilgern ein wahres „Mekka“ ist, das zeigen die vergangenen Tage.
In Frankreich läuft seit einer Woche die WM im Rugby und nicht wenige
Enthusiasten aus der ganzen Welt sind angereist, um sich just in Toulouse
die fünf angesetzten Gruppenspiele anzusehen. Und tatsächlich scheint einen
an jeder Straßenecke ein Wandgemälde, ein Poster oder ein Slogan an das
Spiel mit dem Ei zu erinnern. Es werden Theaterstücke über Rugby aufgeführt
und selbst Galerien und Museen scheinen vom Rugby besessen.
Im Abattoirs-Museum, dem wahrscheinlich besten französischen Museum für
zeitgenössische Kunst, erinnert man sich gern an eine Ausstellung über die
„latente Erotik von Rugby-Posen“. Jedes Jahr Mitte Juni verwandelt sich
während des Toulouse-Rugby-Festival der Place du Capitole für einige Tage
in ein riesiges Rugbyfeld, auf dem jeder Besucher sich in den verschiedenen
Positionen und Versionen des Rugbyspiel ausprobieren kann.
Die Toulousains scheinen das Spiel so sehr verinnerlicht zu haben, dass
jeder die Statur eines Props, Flankers oder Verbinders hat und selbst am
Verkehrspolizisten oder Gemüseverkäufer vermeint man die so
charakteristischen Blumenkohlohren der Rugbyspieler wahrzunehmen. Irgendwo
an einer Brücke hängt ein großes Banner mit der Aufschrift „Jeu de main,
jeu de Toulousain“, was übersetzt so viel bedeutet wie: „Das Spiel mit der
Hand ist das Spiel der Toulouser.“ Tatsächlich sagt man in Frankreich, dass
das Ellipsoid Ende des 19. Jahrhunderts über wohlhabende Weinhändler nach
Bordeaux gelangte, aber erst in Toulouse hätte man es aufgenommen und sei
damit losgerannt.
## 21 Titel für Toulouse
Acht der zehn größten Städte der Verwaltungsregion Okzitanien haben einen
Rugby-Verein in der ersten oder zweiten Profiliga, der Top 14 oder D2,
darunter Montpellier, Perpignan, Bezier oder Narbonne. Allein in Toulouse
gibt es über zehn Rugbyvereine und zwanzig städtische Spielfelder. Im
Zentrum thront Stade Toulousain, [2][die erfolgreichste Rugbymannschaft
Europas]. Seit ihrer Gründung im Jahr 1907 haben sie 21 nationale
Meistertitel und seit 1996 fünfmal den Heineken Cup, eine Art Champions
League, gewonnen.
Traditionell stellt Stade Toulousain auch einen Großteil des französischen
Rugby-Nationalteams. Zehn der 33 Spieler im WM-Kader tragen eigentlich die
Vereinsfarben Schwarz-Rot, so auch die zwei größten Stars und Posterboys
der Gallier. Antoine Dupont, den Kapitän der Franzosen, halten einige
Experten für den vielleicht vielseitigsten und talentiertesten Rugbyspieler
überhaupt. Er kommt aus einem Dorf nicht weit von Toulouse und spielt seit
sechs Jahren für Stade Toulousain. Der zweite große Hoffnungsträger für die
WM war Spielmacher Romain Ntamack, dem allerdings kurz vorm Turnier das
Kreuzband riss. Ntamack ist in Toulouse geboren und spielt, seit er fünf
ist, für deren größten Rugbyverein.
Wie besonders die Rugby-Atmosphäre in Toulouse ist, das beschrieb vor der
WM zum Beispiel Bismarck du Plessis. Der Südafrikaner hatte zwischen 2015
und 2021 für die Rugby-Mannschaft von Montpellier gespielt und schien immer
noch beeindruckt zu sein: „Wir sind hier vor jedem Spiel mit einer
besonderen Anspannung, vielleicht sogar mit etwas Angst gegangen. Die
Anhänger hier sind ebenso euphorisch wie fast schon feindselig.
In Toulouse sind es 150 Meter vom Spielfeld bis zur Umkleidekabine. Man
läuft auf diesem schmalen Weg und die Masse der Fans des Vereins schreit
dich an und beschimpft dich, wie du es kaum glauben kannst.“ Auch
Südafrikas jetziger Kapitän, Siya Kolisi, erinnerte sich an Toulouser
Rugby-Atmosphäre: „Wir haben dort mit meinem Verein, den Sharks aus Durban,
gespielt, und ich hatte regelrecht Gänsehaut. Ich habe schon in vielen
Stadien gespielt, aber hier ist es einfach ‚Wow‘!“
## Hier schlägt das Rugbyherz
Stade Toulousain muss sich auch bezüglich seiner Wirtschaftskraft kaum
hinter den Spitzenvereinen der Fußballliga Ligue 1 verstecken. So werden
beispielsweise jedes Jahr Merchandisingartikel im Wert von über 30
Millionen Euro verkauft. Nur einmal in diesem Jahr konnte der Fußball aus
dem Schatten treten. Im Pokalfinale hatte der FC Toulouse, der noch nie
Meister werden konnte, den Cup geholt und damit eine 66-jährige Titelflaute
beendet.
Das ist in Frankreichs viertgrößter Stadt mit ihren knapp 500.000
Einwohnern allerdings schon längst wieder Schnee von gestern. Hier
konzentriert man sich lieber auf die Gruppenspiele der Rugby-WM.
Kurioserweise wurden Europas Rugbyhauptstadt nur fünf Gruppenspiele
zugeteilt. Darunter sind eher überschaubar hochklassige Partien wie
Georgien gegen Portugal oder Japan gegen Chile. Lediglich das
Hingucker-Spiel der legendären All Blacks gegen Namibia konnte man nach
Toulouse holen. Aber das war dann doch ein sehr deutliche Sache.
Neuseeland, der Favorit, gewann am Freitag 71:3.
Allerdings spielt auch das am Ende keine große Rolle. Denn etwas steht für
alle hier längst schon fest: Nirgendwo wird man den Rest des Turniers so
sehr genießen wie hier, wo Europas Rugbyherz am lautesten schlägt.
16 Sep 2023
## LINKS
[1] https://www.rugbyworldcup.com/2023
[2] https://www.stadetoulousain.fr/
## AUTOREN
Christian Henkel
Karl-Udo Wenholt
## TAGS
Rugby
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Neuseeland
Frauen-Fußball-WM 2023
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