# taz.de -- Beginn der Rugby-WM in Frankreich: Rustikal und spielerisch zugleich | |
> Frankreich zählt bei der am Freitag beginnenden Rugby-WM zu den | |
> Favoriten. Der Gastgeber hat den einst elitären Sport proletarisiert. | |
Bild: Frankreichs Kapitän Antoine Dupont in Aktion bei einem Spiel gegen Wales… | |
Während sich Deutschland mit seiner Fußballkrise beschäftigt, bereitet sich | |
Nachbar Frankreich auf ein sportliches Großereignis vor. 2,5 Millionen Fans | |
in ausverkauften Stadien. 600.000 erwartete Besucher aus dem Ausland. | |
Sieben Wochen lang wird sich zwischen Paris, Lyon, Marseille, Nizza, | |
Bordeaux, Nantes, Toulouse, Lille und Saint-Etienne alles um das Rugby-Ei | |
drehen. | |
Zwischen dem 8. September und dem 28. Oktober kämpfen 20 Rugby-Nationen um | |
den Webb Ellis Cup, die Trophäe der Rugby-WM. Und Turnierdirektor Michel | |
Pousseau ist optimistisch, die Zahl der Fernsehzuschauer von 2019 zu | |
übertreffen. Damals verfolgten insgesamt 857 Millionen Fans die WM in | |
Japan. Zum Vergleich: [1][Das Finale der Fußball-WM 2022] sahen weltweit | |
1,5 Milliarden Menschen. Auch in Deutschland ist ein Großteil der Spiele im | |
Free-TV zu sehen. Der Sender ProSieben Maxx überträgt 35 der 48 WM-Spiele. | |
Rugby und Frankreich – das ist eine tatsächlich einzigartige histoire | |
d'amour. Lange Zeit war es das einzige nicht Englisch sprechende Land unter | |
den Top-Rugby-Nationen und wurde als zweifelhafter Genosse in einem | |
elitären Bund gesehen. Der Legende nach hatte ein schottischer Weinhändler | |
Rugby 1870 nach Bordeaux eingeschleppt. Und von dort hatte es seinen | |
Siegeszug vor allem in den Südwesten von Frankreich angetreten. | |
Ursprünglich wurde Rugby wie in Großbritannien vor allem in den | |
Elite-Lycées gespielt. Aber dann entdeckten – in Europa einzigartig – | |
Bauern und die Arbeiterklasse das Spiel für sich. Dies war der Beginn des | |
„Rugby des Villages“, bei dem jede Stadt einen Club mit treuen Mitgliedern | |
gründete, um benachbarte und rivalisierende Dörfer und Städte zu | |
„bekämpfen“. | |
Vor allem die Basken und Katalanen – harte, muskulöse Bergmänner – | |
entwickelten eine ans Religiöse grenzende Leidenschaft und betrachteten | |
Rugby schnell als Symbol des Nationalstolzes und Bollwerk gegen die | |
zentralistische Macht von Staat und Kirche, die das Spiel als brutal und | |
atavistisch verteufelte. Gespielt wurde in kleinen Städten und Dörfern von | |
jungen Weinbauern und Landarbeitern. Zwar wurde schnell der leichte Pass- | |
und Laufstil der Pariser Aristokraten kopiert, aber auf die | |
„gentlemen-rules“ pfiff man. | |
## Ausschluss der rüpelhaften Franzosen | |
Vielmehr ging es darum, das nächste Dorf im Dreck liegen zu sehen. Referees | |
wurden zusammengeschlagen, es gab Tote und Verletzte. 1930 wehrte sich die | |
britische Rugbyfamilie zum ersten Mal. Frankreich wurde für zehn Jahre aus | |
dem Five-Nations Wettbewerb ausgeschlossen. Die Gallier hätten zu viel | |
Brutalität ins Spiel gebracht und darüber hinaus ihre Spieler mit nicht | |
erlaubten Honoraren bedacht. | |
Bis heute ist man in Frankreich stolz auf das sogenannte „French Flair“, | |
jenen für die nördliche Hemisphäre so einzigartigen Stil aus flüssigem | |
Pass- und Laufspiel sowie grenzwertig rustikalem Körpereinsatz. | |
[2][Frankreich schaffte es damit in drei WM-Finals], konnte aber nie den | |
Titel gewinnen. | |
Bei ihrem Heimturnier gelten sie nun neben Titelverteidiger Südafrika als | |
großer Favorit. Zwar haben die Gallier noch kurz vor dem Turnier ihren | |
jungen Spielmacher Romain Ntamack durch einen Kreuzbandriss verloren. | |
Dennoch haben sie um Kapitän Antoine Dupont eine starke Generation. Die | |
Springboks wiederum haben erst im August den legendären All Blacks aus | |
Neuseeland mit einem 35:7 die höchste Niederlage in der 102-jährigen | |
Geschichte des Aufeinandertreffens dieser beiden Rugby-Giganten | |
beigebracht. Die All Blacks gelten als überaltert und deshalb nicht als | |
allererster Anwärter auf den Titel. | |
Geheimfavorit sind (wie eigentlich fast immer vor einer WM) die Iren, die | |
sowohl die Republik Irland als auch Nordirland repräsentieren. Die Iren | |
sind Weltranglistenerster und amtierender Six Nation Champion. Allerdings | |
haben sie bei neun Weltmeisterschaften immer das Viertel-, aber nie das | |
Halbfinale erreicht. | |
Richtig in den Seilen hängt hingegen die englische Nationalmannschaft, | |
[3][die vor vier Jahren in Japan die Rugbywelt so begeistert hatte]. Deren | |
Kapitän Owen Farrell ist aufgrund eines bösen Foulspiels in einem der | |
vorhergehenden Testspiele gegen Wales für die entscheidenden ersten beiden | |
Gruppenspiele gegen Argentinien und Japan gesperrt. | |
Nach lediglich vier Siegen (in zehn Spielen) in der vergangenen Six Nations | |
Saison, einer historischen Rekordniederlage gegen Frankreich und einem | |
ebenso klaren Desaster gegen Südafrika blickt man mit Bangen auf die | |
Performance in Frankreich. Im ersten Spiel gegen Argentinien sehen | |
Analysten England gar zum ersten Mal als Underdog. Und nach dem zweiten | |
Spiel gegen die ebenfalls starken Japaner könnte für die Red Roses schon | |
nach einer Woche alles vorbei sein. | |
Bleibt Australien: dort ist nach einer skandalösen Trainer-Volte vor einem | |
halben Jahr mittlerweile Eddie Jones, der wahrscheinlich kontroverseste | |
Rugby-Trainer unserer Tage, in der Verantwortung. Bisher hat er es sowohl | |
mit Australien (WM-Finale 2003), als auch mit Südafrika (Assistenz-Coach | |
beim WM-Titel 2007), Japan (sensationeller Sieg gegen Südafrika bei WM | |
2015) und England (Vizeweltmeister 2019) mit jedem seiner Teams geschafft, | |
bei einer WM für eine Überraschung zu sorgen. | |
7 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Fussballweltmeister-Argentinien/!5900635 | |
[2] /Rugby-WM-in-Neuseeland/!5109729 | |
[3] /Suedafrika-ist-Rugby-Weltmeister/!5635098 | |
## AUTOREN | |
Christian Henkel | |
Karl-Udo Wenholt | |
## TAGS | |
Rugby | |
WM | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Rugby | |
Rugby | |
Rugby | |
Rugby | |
Rugby | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ein Sport für alle: Hamburger Rugby-Club will nach oben | |
Für alle offen sein und sportlich vorankommen: Der Hamburger Rugby-Club | |
will viel. Noch sind die Bedingungen bescheiden. | |
Australische Rugby-Misere: An den Rand gedrängt | |
Dem zweifachen Weltmeister Australien droht nach der 6:40-Niederlage gegen | |
Wales mehr als das WM-Aus. Es geht um die Existenz. | |
Rugby-WM in Frankreich: Ei der Erkenntnis | |
Die Rugby-WM hat einen idealen Spielort: Toulouse. In der Stadt wird der | |
Sport gelebt, geliebt und zelebriert. Ein Ortsbesuch im Süden Frankreichs. | |
Rugby für Anfänger: Die ganze Insel siegt | |
Irlands Rugby-Auswahl gewinnt das Six-Nations-Turnier. Und durch den Sieg | |
über England sichert es sich noch den inoffiziellen Grand Slam. | |
Leggings für Rugby-Spieler: Revolution der Meggings | |
Bislang war den Rugby-Männern das Tragen von Leggings verboten. Nun hat der | |
Dachverband diese Regelung „aus Gründen des Wohlergehens“ geändert. | |
Rugby und Diversität: So oval wie die Welt | |
Ins 7er-Rugbyturnier startet Japan als Geheimfavorit. Auch weil die | |
japanische Auswahl nichts mit dem Spuk von „ethnischer Reinheit“ zu tun | |
hat. |