# taz.de -- Vera Politkowskaja über ihre Mutter: „Ihre Bücher waren prophet… | |
> Die Tochter der kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja hat ein | |
> Buch geschrieben. Ein Gespräch über Familie, Prophezeiungen und Kriege. | |
Bild: Anna Politkowskaja im April 2005 in Moskau. 2006 wurde sie ermordet | |
wochentaz: Frau Politkowskaja, wann haben Sie das letzte Mal an Ihre Mutter | |
gedacht? | |
Vera Politkowskaja: Ich denke jeden Tag an sie. | |
Ihre Mutter steht auch im Mittelpunkt Ihres Buches „Sie hätte es Krieg | |
genannt“, das an diesem Wochenende auf Deutsch erscheint. Warum dieses | |
Buch? | |
Ich wollte den Leser*innen, den Menschen, die sich für das Leben und die | |
Arbeit meiner Mutter interessieren, auch ihre andere Seite zeigen. | |
Einblicke in ihr Privat- und Familienleben geben. Tatsächlich beschreibe | |
ich in meinem Buch genau das. Ihre Persönlichkeit und ihren Charakter und | |
wie sie sich im gewöhnlichen Alltag gezeigt haben. Es geht um die andere | |
Seite ihrer Arbeit, wie das alles von innen betrachtet aussah. | |
Ihr Buch ist zuerst auf Italienisch herausgekommen. Welches Zielpublikum | |
adressieren Sie? | |
Kein bestimmtes – einfach Menschen, die mehr über das Leben von Anna | |
Politkowskaja wissen wollen. | |
In naher Zukunft auch russischsprachige Leser*innen? | |
Das Buch gibt es bislang nicht auf Russisch. Und ich denke, dass es in | |
Russland auch nicht so schnell erscheinen wird. | |
Ihre Mutter Anna Politkowaskaja wurde am 7. Oktober 2006 ermordet. Einen | |
nahen Menschen auf diese Weise zu verlieren, ist grausam. Wie ging es | |
weiter, Ihr Leben danach? | |
Ich habe kurz danach ein Kind bekommen. Mutter zu sein, das hat mich ganz | |
in Beschlag genommen. Das erste Lebensjahr mit meiner Tochter war nicht | |
einfach. Ich habe parallel dazu ja auch noch gearbeitet. | |
Haben Sie schon damals daran gedacht, Russland zu verlassen? | |
Ja, unmittelbar nach dem Tod meiner Mutter gab es diesen Gedanken. Aber es | |
war unmöglich, diesen Plan zu realisieren. Denn in diesem Mordfall galt und | |
gelte ich als Geschädigte. Im russischen Strafrecht ist ein Geschädigter | |
oder eine Geschädigte Partei des Strafverfahrens. Das heißt, es ist | |
erforderlich, sich an bestimmten verfahrenstechnischen Schritten zu | |
beteiligen. Aus der Ferne geht das nicht, das erfordert Präsenz. Für die | |
strafrechtliche Untersuchung ging viel Zeit drauf, obwohl der Mord | |
letztendlich nicht aufgeklärt wurde. Dennoch haben wir, mein Bruder Ilja | |
und ich, aktiv an den Ermittlungen mitgewirkt. | |
Hatten Sie in den darauf folgenden Jahren die Hoffnung, in Russland könne | |
sich auch etwas zum Besseren wenden? | |
Natürlich hatte ich diese Hoffnung. Uns verbietet ja niemand, auf bessere | |
Zeiten zu hoffen. Aber alles, was in Russland dann passiert ist, das waren | |
im Prinzip nur langsame und graduelle Schritte hin zu dem, was wir jetzt | |
haben. Das heißt, es hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. In all den | |
Jahren wurde es immer schlimmer. Und eine Folge davon war schließlich der | |
Beginn des Krieges gegen die Ukraine. | |
[1][Ihre Mutter hat viel über die Tschetschenien-Kriege] geschrieben – eine | |
Blaupause für Moskaus Krieg in Syrien, aber auch in der Ukraine. Haben | |
westliche Politiker*innen Anna Politkowskaja nicht genau genug gelesen | |
oder sie nicht ernst genommen? Waren sie zu naiv? | |
Ich habe keine klare Antwort darauf, obwohl alles, was nach ihrem Tod | |
geschah, wie sich die Situation im Land insgesamt entwickelte, schon damals | |
in ihren Büchern nachzulesen war. Mein Bruder oder andere Verwandte und ich | |
haben bei Zusammenkünften immer wieder festgestellt, dass ihre Bücher in | |
gewisser Weise prophetisch waren. Was die westlichen Politiker*innen | |
angeht, da kann ich nur mutmaßen. Vielleicht haben sie sich mit den | |
Analysen meiner Mutter nicht so intensiv beschäftigt wie beispielsweise | |
Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen. Es ist wohl weniger | |
Naivität, als eher der unterbliebene Versuch, das Wesen des Regimes | |
verstehen zu wollen. | |
Was war Ihr erster Gedanke in der Nacht zum 24. Februar 2022, als Russland | |
seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann? | |
Einfach nur weg aus Russland. | |
Warum? | |
Wenn etwas nach und nach kommt, gewöhnt man sich daran und lernt, damit zu | |
leben. Die Zeit dafür ist da. Aber als der Krieg dann begann, habe ich | |
sofort verstanden, dass sich die Ereignisse absolut rasant entwickeln und | |
alles noch schlimmer werden würde. Und mir wurde klar, dass ich bald keinen | |
Job mehr haben würde. [2][Die Schließungen vieler Medienunternehmen, die | |
Inhaftierung von Journalist*innen,] Oppositionellen und allen Menschen, die | |
einen anderen Standpunkt als die Regierung vertreten, haben meine | |
Befürchtungen bestätigt. | |
In Ihrem Buch erwähnen Sie in diesem Zusammenhang auch ihre Tochter Anna, | |
die heute 16 Jahre alt ist … | |
Sie musste sich schon immer abfällige Kommentare anhören, welchen Nachnamen | |
sie hat und aus welcher Familie sie stammt. Das setzte sich nach dem Beginn | |
des Krieges fort. Aber sie ist eben auch ein Teenager und hat wohl anfangs | |
gar nicht begriffen, was es heißt, an öffentlichen Orten, [3][wie in der | |
Schule, seine Meinung zu sagen. Das ist jetzt gar nicht mehr möglich.] Aber | |
sie hat sich trotzdem kritisch geäußert, was zu noch größeren Konflikten | |
mit ihren Altersgenoss*innen führte. | |
Die Schwierigkeiten Ihrer Tochter sind nur ein Beispiel für die intimen | |
Einblicke, die Sie den Leser*innen in Ihr Privatleben gewähren. Kostete | |
diese Offenheit manchmal Überwindung oder war das eher eine Art Therapie, | |
um mit der Situation umzugehen? | |
Um das zu beschreiben, musste ich alles noch einmal durchleben. Das war | |
schwer, doch anders ging es nicht. In gewisser Weise war es auch eine Art | |
Therapie. Oder besser gesagt: ein Versuch, alle Gegebenheiten und Fakten | |
unseres Lebens in einer einheitlichen Linie anzuordnen. Das hat mir | |
geholfen. | |
Welches Erbe hat Anna Politkowskaja hinterlassen? | |
Wie gesagt: Ihre Bücher waren prophetisch. Als sie geschrieben wurden, | |
haben viele Menschen diese Veröffentlichungen als eine sehr starke | |
Übertreibung dessen empfunden, was sich um sie herum abspielte. Dennoch hat | |
die Zeit dieses Bild zurecht gerückt. Es hat sich gezeigt, dass meine | |
Mutter Recht hatte. Ja, auch diese Botschaft ist von ihr geblieben: Dass | |
man Menschen sehr genau zuhören sollte, die sagen, was die Mehrheit | |
verschweigt oder nicht einmal wahrnimmt. Diese Menschen sollten sich nicht | |
scheuen zu sagen, was sie denken, was sie sehen und sie sollten die Dinge | |
beim Namen nennen. | |
Sie und Ihre Tochter leben im Ausland. Wie blicken Sie jetzt auf Russland, | |
haben Sie manchmal Heimweh? | |
Klar habe ich Heimweh, aber da ist auch, ehrlich gesagt, eine tiefe | |
Traurigkeit. Ich hatte mir schon vorher ausgemalt, wie sich die Situation | |
nach Kriegsbeginn in Russland entwickeln könnte. Aber so, wie dann alles | |
gekommen ist, das hat selbst meine pessimistischsten Annahmen übertroffen. | |
Was erwarten Sie? | |
Nichts Gutes, denn es gibt zur Zeit keine Anzeichen dafür. Meine Hoffnungen | |
sind nicht gänzlich verflogen, aber das hat auch irgendwie mit meinen | |
Emotionen zu tun. Die Fakten sprechen für sich. In naher Zukunft wird sich | |
leider nichts zum Besseren ändern. | |
Wie ist Ihr Leben mit ihrer Tochter im Exil? | |
Ich bin viel ruhiger geworden, vor allem auch, was meine Tochter angeht. | |
Sie ist eine der Prioritäten in meinem Leben. Hier sind die Menschen viel | |
freier. Du kannst deine Meinung äußern und musst keine Angst haben, dafür | |
verhaftet zu werden. Genau das passiert jetzt überall in Russland, jeden | |
Tag. Zu emigrieren, das ist kein einfacher Weg. Das war er nie, für | |
niemanden. | |
Was ist besonders aufreibend? | |
Ich meine die vielen Schwierigkeiten jedes Menschen aus der Russischen | |
Föderation, der im Ausland lebt. Neue Gesetze und Verordnungen, die | |
westliche Länder erlassen, um Russ*innen das Leben im Ausland schwer zu | |
machen. Mittlerweile ist die Haltung gegenüber Russ*innen weltweit | |
negativ. Aber ich weiß auch: Wenn ich jetzt in Russland leben würde, wäre | |
alles noch viel komplizierter. | |
Arbeiten Sie? | |
Ich bin an verschiedenen journalistischen und schriftstellerischen | |
Projekten beteiligt. | |
Was ist Ihr größter Wunsch? | |
Dass das Leben in Russland auf den Kopf gestellt und alles gut wird. Im | |
Moment habe ich keine Vorstellung davon, wie das passieren und wie lange | |
das noch dauern könnte. Ich wünsche mir, keine Angst davor haben zu müssen, | |
mit meiner Tochter nach Russland zurückzukehren. | |
Vera Politkowskaja hat mit der Journalistin Sara Giudice das Buch „Meine | |
Mutter hätte es Krieg genannt“ (Klett-Cotta, 2023, 192 Seiten), | |
geschrieben. | |
16 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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