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# taz.de -- Prozess gegen IS-Rückkehrerin: Lange Haft für Marcia M.
> Marcia M. soll geholfen haben, Anschläge in Deutschland vorzubereiten.
> Ihre Reue nahm ihr das Gericht nicht ab. Mit der Aufarbeitung steht sie
> am Anfang.
Bild: Die Angeklagte Marcia M. hält sich im Gerichtssaal mit gefesselten Händ…
Hannover taz | Die Sicherheitsvorkehrungen haben nachgelassen, das
Interesse der Öffentlichkeit auch. Als der Prozess gegen [1][die
IS-Rückkehrerin Marcia M. vor dem Oberlandesgericht in Celle im April
begann], standen noch vermummte Polizisten mit Maschinenpistolen rund um
das Gebäude. Jetzt, zur Urteilsverkündung, sieht man nur noch einzelne
Polizeifahrzeuge.
Auch das mediale Interesse hat nachgelassen. Irgendwie gleichen sie sich ja
auch, diese Geschichten von verirrten, verblendeten Frauen und die
Weltöffentlichkeit hat längst andere Sorgen als diesen Krieg von gestern.
Das ist vorschnell, glaubt Sofia Koller, immerhin ist die Reintegration
dieser Frauen und ihrer Kinder noch lange nicht abgeschlossen. Die
Politikwissenschaftler beobachtet bundesweit Prozesse gegen
IS-Rückkehrerinnen für das Counter Extremism Project in Berlin, einen
transatlantischen Thinktank, der sich der Analyse und Bekämpfung
extremistischer Netzwerke verschrieben hat und politische
Entscheidungsträger berät.
Mit einer Haftstrafe von acht Jahren und sechs Monaten, die das Gericht
über Marcia M. verhängt hat, gehört die heute 34-Jährige aus Salzgitter zu
den am härtesten Bestraften. Noch länger ins Gefängnis mussten bisher nur
jene Frauen, die sich direkt an der Versklavung und Misshandlung
jesidischer Frauen und ihrer Kinder beteiligt hatten – wie [2][Jennifer W.
aus Lohne, die sich] am grausamen Tod eines Kindes mitschuldig gemacht
hatte und dafür nun – nach Revision – zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde.
Von jesidischen Sklaven ist im Falle Marcia M. nicht die Rede. Aber sie hat
deutlich mehr getan, als ihrem IS-Ehemann bloß den Haushalt zu führen,
urteilte das Oberlandesgericht Celle. Am Schwersten wog der Vorwurf, sie
habe sich an der Vorbereitung von Anschlägen in Deutschland beteiligt.
## Konkrete Anschlagspläne
Marcia M. hatte versucht, Ehefrauen zu rekrutieren, die IS-Kämpfern die
Einreise und den Aufenthalt in Deutschland ermöglichen sollten. Als
„Schläfer“, behauptet sie. Die Sicherheitsbehörden glauben allerdings, da…
damit schon sehr konkrete Anschlagspläne verbunden waren – und dass Marcia
M. das auch klar war. Ähnlich wie im Bataclan in Paris sollten die Männer
ein Massaker auf einem nicht näher bezeichneten Musikfestival in der Nähe
von Hildesheim begehen, möglicherweise auch bei einem Kinderkonzert in
Frankfurt.
Das scheiterte im Wesentlichen an zwei Dingen: Marcia M. chattete, ohne es
zu wissen, mit einer Quelle des Bundesnachrichtendienstes. Und die beiden
auserkorenen IS-Kämpfer scheiterten an der geschlossenen syrisch-türkischen
Grenze. Das, findet der Generalbundesanwalt, ist ihr ja aber nicht
zuzurechnen. „Sie hat ihren Teil beigetragen.“
Die Verteidigung macht dagegen geltend: Marcia M. hatte wenige Kenntnisse
und keinen Einfluss auf die tatsächlichen Anschlagspläne. Sie handelte auf
Anweisung ihres Ehemannes, der sie über die Details im Dunkeln ließ.
Außerdem habe sie sich von Anfang an – schon während der Inhaftierung in
Syrien, reuig und geständig gezeigt und mit den deutschen
Sicherheitsbehörden kooperiert.
## Taktische Geständnisse
Die Anklage und letztlich auch der Richter unterstellten ihr aber letztlich
taktische Geständnisse. Sie habe manche Vorwürfe eingeräumt, andere
geleugnet. An manchen Stellen tatsächlich Vorgänge geschildert, die sie
belasten und die der Anklage so gar nicht bekannt waren – die Teilnahme an
ideologischen Schulungen etwa oder die Herstellung von Elektronikbauteilen,
die vermutlich Teil von Sprengfallen waren.
An anderen Stellen leugnete sie, konnte sich nicht genau erinnern, spielte
ihre Beteiligung herunter, glaubte das Gericht. Dabei ging es zum Beispiel
um die Tiefe ihrer Kenntnisse zu den Anschlagsvorbereitungen, das
Verfertigen propagandistischer Schriften, die Herstellung von Sprengstoffen
und Sprengstoffgürteln, ihre Einbindung in ein Frauenbataillon.
Hier wurde allerdings auch deutlich, wie schwierig die Beweiserhebung in
diesen Verfahren ist: Das Gericht stützte sich auf die Auswertung von
Chats, auf Zeuginnen, die selbst IS-Angehörige waren,
nachrichtendienstliche Berichte, die gleich mehrfach gefiltert und
vermittelt wurden – weil die Aufzeichnungen und Vernehmer als Zeugen vom
BND nicht zur Verfügung gestellt werden.
Marcia M. tut zwar mehr als andere Angeklagte, sie bemüht sich Rede und
Antwort zu stehen statt ihre Verteidiger vorgefertigte Erklärungen verlesen
zu lassen. Sie versichert immer wieder, es tue ihr leid und sie bereue, was
sie getan habe. Aber es fällt ihr auch schwer, nachvollziehbar zu machen,
was sie damals antrieb. Sie verstehe sich selbst nicht mehr, sie sei
verblendet gewesen, erklärte sie schon beim Prozessauftakt. Eine tiefe,
innere Reue vermag das Gericht trotzdem nicht erkennen.
Das liegt vielleicht auch daran, dass ihr der Zugang zu diesen zwei Jahren
beim IS tatsächlich versperrt ist, überlagert wird von dem, was danach kam.
Die fünf Jahre in Gefangenschaft nehmen in ihren Schilderungen und den
Plädoyers ihrer Verteidiger breiten Raum ein. Sie waren ohne Zweifel
traumatisierend – auch wenn man zögert, das auszusprechen angesichts des
noch viel größeren Leids der jesidischen Opfer.
Es ist deshalb vielleicht verständlich, dass der Vertreter des
Generalbundesanwaltes das in seinem Schlussvortrag mit einem knappen
„selbst Schuld“ abzubürsten versucht. Aber fest steht auch: Marcia M. hat
einen hohen Preis für ihre „Verblendung“ bezahlt. Eindrücklich berichtet
sie von dem Bombensplitter, der noch immer durch ihren Körper wandert. Den
Verhören und der Haft unter Folterbedingungen. Dem Kampf ums Überleben, die
alltägliche – auch sexualisierte – Gewalt in den Lagern. Fehl- und
Totgeburten. Von dem totgeborenen Kind, das sie mit ihren eigenen Händen im
Lager neben der Latrine verscharen musste.
## Ungewisse Zukunft
Davor achselzuckend die Augen zu verschließen, könnte unter Präventions-
und Reintegrationserwägungen kontraproduktiv sein. Vor dem
Oberlandesgericht geht es dabei vor allem um juristische Feinheiten: Zum
Beispiel die Frage, wie diese Zeit, das lange Warten auf die Rückkehr, das
dadurch verzögerte Verfahren zu berücksichtigen ist.
Für Marcia M. und andere Rückkehrende wird eine wirkliche
Auseinandersetzung mit dem Leid, das sie sich und anderen zugefügt haben,
eine konkrete Ausstiegs- und Deradikalisierungsberatung aber erst beginnen
können, wenn der Strafprozess abgeschlossen ist. Zu groß ist außerdem die
Gefahr, dass die Berater als Zeugen vorgeladen werden, erklärt die
Analystin vom Counter Extremism Project.
Marcia M. war 27, als sie ausgereist ist. Sie wird (je nach Führung) Anfang
40 sein, wenn sie das Gefängnis verlässt – und in die Verhältnisse
zurückkehrt, aus denen sie in diesen Irrsinn geflohen ist. Anders als
andere Frauen hat sie keine eigenen Kinder, die ihrem Leben Halt und Sinn
geben – bei allen Problemen, mit denen das für diese Kinder verbunden ist.
Ob sie die zwei Waisenkinder, die sie im Camp angenommen hat, wiedersehen
darf, ist ungewiss.
1 Sep 2023
## LINKS
[1] /Prozessauftakt-in-Celle/!5928382
[2] /Prozess-wegen-Versklavung-mit-Todesfolge/!5957085
## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
„Islamischer Staat“ (IS)
Islamismus
Salafismus
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„Islamischer Staat“ (IS)
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