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# taz.de -- Bedeutungsschwere Satzzeichen: Anschreizeichen sind keine Diagnose
> Immer geht es nur um Sternchen. Dabei gäbe es doch auch zu Ausrufezeichen
> und Semikola einiges zu sagen.
Bild: Das ist kein Anschreizeichen
Neulich bin ich bei einer alten Seinfeld-Folge eingeschlafen – Sie wissen
schon diese Serie, die man in den 90ern unfassbar lustig und cool fand. In
der Folge ging es unter anderem darum, dass die Figur namens Elaine einen
Typen abserviert, weil er es versäumt hat, in einer Telefonnotiz ein
Ausrufezeichen zu setzen, wo ihrer Meinung nach unbedingt eines hingehörte.
Das gehört natürlich zum speziellen Humor der Serie und klingt jetzt erst
einmal sehr seltsam (zumal er vorher die Wohnung geputzt und gekocht hatte
– wofür die meisten Frauen, die ich kenne, ihm noch ganz andere Dinge
durchgehen lassen würden als Zeichensetzungsfehler, aber egal).
Ich musste jedenfalls daran denken, [1][dass *Sternchen ja möglicherweise
nicht die einzigen Zeichen sind, die gerade einem dramatischen
Bedeutungswandel unterliegen]. Ich mag Ausrufezeichen schon seit einem
Weilchen nicht mehr. Ich weiß gar nicht genau, wann das angefangen hat, bin
mir aber ziemlich sicher, dass es irgendwie mit Facebook zusammenhängt.
Meine Schwester nennt sie auch nur noch „Anschreizeichen“. Aber die
arbeitet auch in der öffentlichen Verwaltung, da wird der assoziative
Zusammenhang noch deutlicher. Ausrufezeichen sind das Lieblingssatzzeichen
von Wut- und Reichsbürgern, AfD-Wählern, Trollen, Online-Kommentatoren und
Leserbriefschreibern. Das ist wirklich schade für das arme Ausrufezeichen,
ich glaube, es war tatsächlich mal nützlich, aber jetzt stinkt es.
## Das Semikolon heißt auch nicht mehr, was es mal war
An einem anderen Abend – mit Theke statt Fernseher – traf ich eine junge
Frau, die sich ein Semikolon auf das Handgelenk tätowieren hatte lassen.
Das bedeutet mittlerweile ganz offensichtlich auch etwas anderes als mein
Deutschlehrer damals noch dachte, lernte ich bei dieser Gelegenheit. Wenn
ich das richtig verstanden habe, steht es für Menschen, die unter
Depressionen leiden, suizidgefährdet sind oder sich schon einmal selbst
verletzt haben.
Eine junge Amerikanerin soll das „Project Semicolon“ gegründet haben,
nachdem sich ihr Vater das Leben genommen hatte. Berühmt gemacht hat es
[2][wohl die Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“.]
Die Wahl dieses speziellen und eigentlich selbst schon fast vom Aussterben
bedrohten Satzzeichens wird mit einem Satz begründet, der gut für
Instagram-Kacheln taugt: „Ein Semikolon wird verwendet, wenn ein Autor
einen Satz hätte beenden können, sich aber dazu entschieden hat, es nicht
zu tun. Du bist der Autor und dieser Satz ist dein Leben.“
## Theoretisch gut, praktisch instabil
Ich weiß erst einmal nicht so genau, was ich davon halten soll. Theoretisch
verstehe ich natürlich den Ansatz, psychische Krankheiten von ihrem Stigma
zu befreien, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu erhöhen, Betroffene zu
ermächtigen und so weiter und sofort.
Aber irgendwie scheint mir das alles auch ein bisschen viel für dieses
schmale Handgelenk auf dem dunklen Thekenholz. Sie wolle, erklärt mir die
junge Frau, das Tattoo auch eigentlich wieder loswerden, es sei mit einer
Phase ihres Lebens verbunden, die ihr jetzt weit weg erscheine.
Siehste, brabbelt einer der Betrunkenen am Nebentisch. Alles Quatsch, man
würde sich doch andere Diagnosen auch nicht auf die Haut stempeln lassen,
die ändern sich ja doch auch wieder. Und überhaupt, wo käme man dahin, wenn
man Menschen da mit einem Blick in so Schubladen einsortieren würde, das
ist doch eigentlich Nazi-Scheiß.
Er würde sich – wenn überhaupt – nur seinen Intelligenzquotienten
irgendwohin tätowieren lassen. „Na jaa“, sagt seine Freundin mit schwerer
Zunge, nachdem sie darüber ein Weilchen nachgedacht hat. „Aber wenn du so
weitersäufst, bleibt der ja auch nicht stabil.“
10 Sep 2023
## LINKS
[1] /Gegen-Sternchen-und-Doppelpunkte/!5948799
[2] /Teenager-Suizide-nach-13-Reasons-Why/!5593519
## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
Kolumne Provinzhauptstadt
Sprache
psychische Gesundheit
Trolle
Verkehrswende
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