# taz.de -- Erziehungsfragen in der Straßenbahn: Falsches Dorf, falsche Zeit | |
> Viele Eltern wären gern weniger allein mit der Erziehungslast – aber wenn | |
> sich fremde Leute einmischen wird es auch schwierig. | |
Bild: Fremde Kinder anmeckern, gehört sich nicht. Früher auf dem Dorf war das… | |
Leider habe ich den Anfang verpasst. Als ich in die Straßenbahn steige, | |
sind die beiden Frauen schon verbal ineinander verkeilt. Eine Mutter | |
schimpft mit einer älteren Dame. „Die ist frisch eingeschult, hat den | |
zweiten Acht-Stunden-Tag hinter sich, die ist müde und kaputt.“ | |
Ich denke erst, es geht um den Sitzplatz, aber nein. „Sie machen hier mein | |
Kind einfach an, was fällt Ihnen denn ein, was geht Sie das an, wie mein | |
Kind mit mir redet?“ Die ältere Dame sagt nicht mehr viel. Nur noch „Aha�… | |
„Na ja“ und „Ach, das finden Sie in Ordnung so?“ in einem Ton, der | |
changiert zwischen peinlich berührt und trotzigem | |
Ich-habe-es-doch-nur-gut-gemeint. | |
Rundherum drücken Menschen ihre Kopfhörer tiefer in die Ohren und starren | |
auf ihre Smartphones. Leider kann ich nicht sehen, was das Kind für ein | |
Gesicht macht. Natürlich [1][ist es übergriffig, ein fremdes Kind in der | |
Straßenbahn zu maßregeln], wenn man nicht gerade selbst mit Dingen | |
beworfen, in den Rücken geboxt oder angespuckt wird. Einerseits. | |
Andrerseits schwirrt in [2][meiner Erziehungsbubble ja gerne immer mal | |
wieder der Spruch „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind groß zu ziehen“] | |
durch die Gegend. Also vorzugsweise, wenn man darauf hinweisen möchte, dass | |
dieses fragile Kleinfamiliendings jawohl eine kolossale Fehlentwicklung | |
ist. | |
Als Alleinerziehende halte ich da natürlich sehr viel von, ich wüsste gar | |
nicht wie das alles gehen sollte, wenn ich nicht einen soliden Frauenclan | |
im Rücken hätte. Aber bei aller Liebe zur geteilten Erziehungslast – am | |
Ende möchte man dann halt doch gern, dass dieses Dorf nur aus | |
handverlesenen Einwohnern besteht, nicht wahr? | |
## Unser liebsten Spiel hieß „weggelaufene Kinder“ | |
Auf keinen Fall sollen da Leute drin wohnen, die meine Kinder autoritär von | |
oben herab zurechtweisen. Oder Menschen, die ihre Kindergartenkinder mit | |
Chips und Eistee füttern. Aber auch nicht solche, die einer Fünfjährigen | |
die zweite Kugel Schokoeis verweigern, mit dem Hinweis, sie sei jawohl | |
schon moppelig genug. | |
[3][In meiner eigenen Dorfkindheit wurde man] andauernd von irgendwelchen | |
Erwachsenen gemaßregelt und fand das meistens ungerecht. Darüber beschweren | |
durfte man sich Zuhause aber lieber nicht, weil Eltern in der Regel davon | |
ausgingen, dass diese anderen Erwachsenen schon irgendwie Recht haben | |
werden. | |
Man kassierte also im Zweifel noch einen Anschiss oder irgendeine Ansprache | |
von „was hast du denn da wieder gemacht“ und „wie stehe ich denn jetzt da… | |
Unser liebstes Spiel hieß „weggelaufene Kinder“ und bestand darin sich | |
durch Gärten, Wiesen, Felder und Wäldchen zu pirschen, ohne von einem | |
Erwachsenen gesehen zu werden. Es war einfach klar, dass die in einer | |
anderen Welt leben, einer schwer durchschaubaren und irgendwie seltsamen | |
Welt. | |
Ich glaube, die Frau in der Straßenbahn lebte in ganz genau der gleichen | |
Welt wie ihre Tochter. Es war warm, sie sah müde aus, erschöpft bestimmt | |
auch von all diesen Umstellungen, die so ein Schulanfang in den familiären | |
Routinen produziert. Da wird die Zündschnur kurz. Hätte das blöde Dorf halt | |
mal früher aufstehen müssen, um nützlich zu sein. Dann wäre vielleicht auch | |
noch ein bisschen Gelassenheit übrig gewesen. | |
23 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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