# taz.de -- Die Wahrheit: Fresslustige Künstler | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (177): | |
> Wanderheuschrecken können Plagen sein, beherrschen aber eine doppelte | |
> Verwandlung. | |
Bild: Nach ihren Metamorphosen hungert die Heuschrecke nach Gesellschaft | |
Die Wanderheuschrecken gehören zu den zehn biblischen Plagen, in der | |
Zoologie zu den Kurzfühlerschrecken. Hier soll die zweifache Metamorphose | |
dieser Tiere interessieren. Im Gegensatz zu den meisten Insekten, deren | |
Raupen (Nymphen) sich als Puppen verflüssigen und neu – als fertiges Insekt | |
(Imago) daraus hervorgehen, ähneln die grünen Nymphen der | |
Wanderheuschrecken morphologisch den adulten Exemplaren, die braun und | |
geflügelt sind. Man nennt das eine „unvollständige Metamorphose“. | |
Das erwachsene Tier findet sich unter Umständen „mit Milliarden anderen zu | |
gigantischen Schwärmen zusammen“, schreibt der Entomologe Marco di Domenico | |
im „Brevier der Verwandlungen“ (2023). Auf der Suche nach Nahrung fressen | |
sie ganze Landstriche in Afrika, Asien und im Mittelmeerraum kahl. Bei | |
allen Arten der Wanderheuschrecke kennen die adulten Insekten „eine | |
solitäre und eine gesellige Lebensphase“. | |
Domenico nimmt an, dass sie „durch chemische Stoffe im Kot“ angeregt | |
werden, sich zu sammeln. Dabei findet ihre zweite Metamorphose statt: | |
„Verhalten und Aussehen verändern sich. Sie werden dünner und häufig | |
gelb-schwarz gefärbt. Eine Warnfarbe. Das ist die gesellige Phase.“ | |
## Im Existenzkampf mit Spießern | |
Lange glaubte man, dass es sich hier um zwei Arten handele. Ihre zwei | |
Metamorphosen sind jedoch noch rätselhaft. Dazu hat der Pariser Professor | |
Emanuele Coccia 2021 „Eine Philosophie der Verwandlungen“ veröffentlicht: | |
„Die Spezies sind keine Substanzen, keine realen Entitäten. Sie sind | |
‚Lebensspiele‘ (in demselben Sinne, wie man von ‚Sprachspiel‘ spricht), | |
unbeständige und notwendigerweise ephemere Konfigurationen eines Lebens, | |
das mit Vorliebe von einer Form zur anderen wandert und zirkuliert.“ | |
Das gilt auch für uns, Franz Kafka greift es in seiner Erzählung „Die | |
Verwandlung“ auf: Gregor Samsa erwacht eines Morgens in der Gestalt eines | |
Insekts. Als „Ungeziefer“ wird die Kommunikation mit seinem sozialen Umfeld | |
immer schwieriger, bis er in seiner Familie als untragbar gilt und als | |
vernachlässigter Pflegefall zugrunde geht. Vladimir Nabokov sah in dieser | |
Erzählung den Existenzkampf des Künstlers in einer Gesellschaft von | |
Spießern thematisiert. | |
Für Coccia hat „jede Gestalt dasselbe Gewicht, dieselbe Bedeutung, | |
denselben Wert. […] Dank der Geburt ist jeder lebende Körper, unabhängig | |
von seiner Gestalt, Größe und Situation, aber auch von der Spezies und des | |
Reiches, dem er angehört, eine Metamorphose. […] Verdammt uns nicht zu | |
einer Identität. […] Das Leben, das uns belebt, gehört uns nicht allein.“ | |
Letztlich ist es das Leben der ganzen Erde und die Mutterschaft ist ein | |
kosmisches Faktum. Der Autor zitiert den Psychoanalytiker Sandor Ferenczi: | |
„Eigentlich erscheint die Mutter als ein Symbol oder partieller Ersatz des | |
Meeres und nicht umgekehrt.“ Es war der antike römische Dichter Ovid, der | |
zur Bestimmung des „Lebensmodus“ der Insekten den Begriff „metamorphosis�… | |
einführte, der Anfang des 17. Jahrhunderts auch von der Naturforschung | |
verwendet wurde, wobei das Sozialleben vor allem der staatenbildenden | |
Insekten zum Vorbild für das menschliche genommen wurde. | |
## Masken und Moden | |
Laut Coccia sind Insekten zwar „Meister der Metamorphose, aber das war | |
nicht immer so. Sie wurden nicht mit dieser Gabe ‚geboren‘, sie haben sie | |
sich im Laufe der Zeit erarbeitet, was ihre Leistung noch unglaublicher | |
erscheinen lässt. Die ersten Insekten besaßen keine Flügel und kannten | |
keine formale Umwandlung. Nichts ist natürlich, ursprünglich, spontan an | |
dieser Fertigkeit.“ | |
Das müsste auch für die Nachahmung gelten, wenn etwa eine ungiftige | |
Schlange das Aussehen einer giftigen annimmt oder ein Tier das Aussehen | |
eines Blattes imitiert – in dem einen Fall spricht man von Mimikry, im | |
anderen von Mimese. Für den Soziologen Roger Caillois war diese | |
„Fertigkeit“ unter anderem von Insekten eine „Kunst“: Es gibt nur eine | |
Natur, meinte er, und deswegen sind solche Nachahmungen vergleichbar mit | |
unseren Moden oder den Masken indigener Stämme. | |
Der Insektenforscher Carroll M. Williams fand hingegen, dass die Insekten | |
„zwei Leben nacheinander führen“. Das erste (die Raupe) widmet sich der | |
Ernährung und der Zukunft des Individuums, das zweite der Zukunft der Art. | |
Für Coccia ist ein Insekt nicht so sehr eine Lebensform, „es ist eher ein | |
Leben der Formen“. | |
## Zur Verwandlung verdammt | |
Auch Menschen gehen nach ihrem Tod in vielfältige andere Lebensformen wie | |
die der Bakterien, Würmer, Käfer, Ameisen und Fliegen über. Diese werden | |
von Vögeln gefressen und die Vögel werden von uns gefressen. „Wir sind dazu | |
verdammt, uns zu verwandeln“ | |
Gegen die „Plage“ der Wanderheuschreckenschwärme, die ganze Ernten | |
vernichten, hat man noch kein Mittel gefunden. Forscher vom Max Planck | |
Institut für chemische Ökologie arbeiten aber mit chinesischen Kollegen | |
daran. Für Domenico hat die Schwarmbildung auch einen positiven Aspekt: | |
„Heuschrecken sind eine wertvolle Eiweißquelle für uns Menschen. Ihr | |
Verzehr ist eine echte Alternative zu Rind- und Schweinefleisch“. | |
Beim Verzehr geht ein Stück Wanderheuschreckenschwarm in uns über. Unsere | |
ersten Körperzellen gingen „humaner“ vor, indem sie sich frei lebende | |
Bakterien einverleibten, jedoch ohne sie zu verdauen, damit sie uns und | |
ihnen weiterhin Lebensenergie liefern konnten und können. | |
## Zwei Leben verschmelzen | |
„Wir brauchen kein Geschlecht und keine Genmutation, um diese | |
interspezifischen Metamorphosen zu erleben“, schreibt Coccia. Täglich essen | |
wir Tiere und Pflanzen. Bei den Säugetieren gibt es nur zwei | |
nichtparasitäre Ausnahmen: Flughunde und Wickelbären, die bloß das fressen, | |
was die Pflanzen ihnen geradezu aufdrängen – Nektar, Pollen und Früchte. | |
Die Vegetarier und Veganer belügen sich selbst, wenn sie eine | |
Trennungslinie zwischen leidenden und nichtleidenden Lebewesen ziehen, | |
ähnlich wie früher die Angler, wenn sie bei den Fischen „No brain no pain“ | |
annahmen. „Das Leben ernährt sich von Leben, Essen bedeutet, das Leben der | |
anderen in unseren Körper zu transfundieren. Essen ist das Verschmelzen | |
zweier Leben zu einem einzigen. Was wir ‚Tod‘ nennen, ist aus dieser | |
Perspektive nur die Schwelle einer Metamorphose.“ | |
4 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
Tierwelt | |
Biologie | |
Franz Kafka | |
Wissenschaft | |
Zoologie | |
Vögel | |
Biologie | |
Tiere | |
Tiere | |
Die Wahrheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ameisen bei der Arbeit: Chillt doch mal | |
Neue Studien zeigen, dass die Mehrheit der Ameisen nicht arbeitet. Ihre | |
Produktivität leidet darunter nicht. Was Menschen davon lernen können. | |
Die Wahrheit: Metallisch glänzende Brummer | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (180): Schmeißfliegen | |
stehen auf Stinkendes und lieben es, als Muse unterwegs zu sein. | |
Die Wahrheit: Glühender Gestaltenreichtum | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (179): Die aparten kleinen | |
Kolibris gibt es in 319 Arten und nur von Alaska bis Feuerland. | |
Die Wahrheit: Räuber mit Katapultpistolen | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (178): Die entsetzlich | |
nervigen Bremsen bringen sogar wahre Rossnaturen um den Verstand. | |
Die Wahrheit: Der Bären menschliche Träume | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (176): Die Begegnung von | |
Menschen mit Braunbären kann für beide Seiten tödlich enden. | |
Die Wahrheit: Widersprich nie einem Wüstenschiff! | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (175): Kamele sind | |
friedfertige Herdentiere und verlaufen sich nie, werden sie menschlich | |
behandelt. | |
Die Wahrheit: Zwitschern vor lauter Lebensfreude | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (174): Schwalben treffen | |
sich gern und quatschen – wohl über ihre Reisen nach Süden. |