# taz.de -- Die Wahrheit: Der Bären menschliche Träume | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (176): Die Begegnung von | |
> Menschen mit Braunbären kann für beide Seiten tödlich enden. | |
Bild: Auf sehr sanfte Art und Weise werden Mensch und Bär eins in Berlin | |
In seinem Buch „Der Himmlische Jäger“ (2020) schreibt Roberto Calasso: „… | |
Kalifornien studierte der Paläoanthropologe Jean Clottes Malereien an einer | |
Felswand, er hatte den Wächter des Ortes, einen Yokut-Indianer namens | |
Hector, dabei. Clottes wies auf einen gemalten Schamanen mit Trommel. ‚Es | |
ist ein Bär‘, korrigierte ihn Hector. Überrascht erwiderte der | |
Wissenschaftler: ‚Ich hätte geglaubt, dass es sich um einen Menschen | |
handelt‘. ‚Das ist dasselbe‘, sagte Hector.“ | |
Ein estnischer Förster erwarb für zwei ungeduldige Jäger aus Deutschland | |
einen Zirkusbären, der unterwegs, als man ihn den Deutschen vor die Flinte | |
trieb, mit einem im Wald liegen gelassenen Fahrrad einer Blaubeersammlerin | |
floh. | |
Auf der Tourismusmesse (ITB) trafen sich Tourismusmanager aus Osteuropa mit | |
einem deutschen Jagdreiseveranstalter. Wladimir Kaminer erfuhr von ihnen: | |
„Wir haben die Zählung der Braunbären abgeschlossen, 1.500 leben in unserem | |
Gebiet“, erzählte ein Beamter aus Tomsk. „Davon brauchen wir höchstens ein | |
Drittel, 1.000 Bären können also abgeschossen werden. Wir haben fähiges | |
Personal, die den Bären in 24 Stunden ausstopfen, sodass der Tourist seinen | |
Bären gleich mitnehmen kann.“ – „Sehr gut!“, sagte der Reiseunternehme… | |
notierte sich das. | |
Hierzulande gibt es seit der Exekution des Bären „Bruno“ in Bayern eine | |
Bärendebatte. Die einen wollen Schutzparks für sie einrichten, andere | |
fordern Bärenmanagementpläne, wieder andere wollen erst das Leben der | |
Braunbären in seinen letzten eurasischen Verbreitungsgebieten erforschen | |
lassen – und warnen vor schneller Wiedereinbürgerung des Raubtiers. | |
## Bärenjagd per Computer | |
Einige Reiche begeistern sich unterdes für Bärenjagden per Computer. Der | |
Ökologe Josef Reichholf schreibt in „Der Bär ist los“ (2007): Bei dieser | |
Art von „Bearhunting“ „ist der ‚Schütze‘ mit einem echten Gewehr dra… | |
der Wildnis über das Internet verbunden und so am Bürostuhl in der Lage, | |
tatsächlich den Bären zu schießen. Das Video dazu wird frei Haus geliefert, | |
das Fell kann als Trophäe erworben werden. Peinlicher kann ein solcher | |
‚Sieg‘ über das große Tier nicht mehr werden.“ | |
Auf Kamtschatka töten umgekehrt die dort lebenden großen Braunbären | |
gelegentlich Touristen. 2014 hatte die junge französische Anthropologin | |
Nastassja Martin auf der russischen Halbinsel eine Begegnung mit einem | |
Kamtschatkabären, die ihr Leben veränderte: Sie war auf Kamtschatka auf | |
eine kleine Gruppe von Ewenen gestoßen, die nach dem Zerfall ihrer Kolchose | |
(wieder) in die Wälder gegangen waren, wo sie nun als nomadische Jäger, | |
Sammler und Holzschnitzer lebten. Sie machten die Wissenschaftlerin mit dem | |
(schamanistischen) Bärenglauben bekannt. | |
Nastassja Martin wurde von ihnen bald „matuscha“ (Bärin) genannt. Nachdem | |
sie bei einer Wanderung eine blutige Begegnung mit einem Bären gehabt und | |
überlebt hatte, war sie eine „miedka“ (vom Bären Gezeichnete) geworden: �… | |
bedeutet, dass deine Träume gleichzeitig auch seine sind“, sagten sie ihr. | |
Nastassja Martin schwebte nach der „Begegnung“ mit dem Bären in | |
Lebensgefahr und wurde mit einem Hubschrauber zu einer Unfallstation | |
gebracht, wo man sie notdürftig zusammennähte, dann wurde sie im | |
Krankenhaus von Petropawlowsk operiert und schließlich in der Pariser | |
Salpètrière noch einmal und noch einmal, wobei sie ein begehrtes | |
Anschauungsobjekt für angehende Chirurgen wurde. Die Krankenschwestern | |
nannten sie „Die Frau mit dem Bären“. | |
## Kenner der Bärenprobleme | |
Auch nach den ganzen chirurgischen Eingriffen blieb ihr Gesicht zerstört. | |
Die 29-Jährige war nicht mehr dieselbe; sie zog sich von Freunden und | |
Kollegen zurück. „Ich habe das Bedürfnis, zu denen zurückzukehren, die sich | |
mit Bärenproblemen auskennen, die in ihren Träumen noch mit ihnen reden; | |
die wissen, dass nichts zufällig geschieht und dass Lebensbahnen sich immer | |
aus ganz bestimmten Gründen kreuzen.“ | |
Auf dem Flug von Kamtschatka nach Paris war Nastassja Martin bereits von | |
einem Passagier auf ihre Verletzungen angesprochen worden. Sie habe mit | |
einem Bären gekämpft, erwiderte sie nicht unstolz. Tatsächlich hatte auch | |
sie den Bären dabei verletzt, mit einem Messer. Als Anthropologin fragt sie | |
sich, ob sie nun „Halb Frau, halb Bär“ sei. | |
Der Ethnologe Rane Willerslev erfuhr bei den sibirischen Jukagiren, dass | |
eine solche Verwandlung bei den Jägern als sehr gefährlich gilt, weil man | |
dadurch das Verhaftetsein mit der Identität der eigenen Spezies verlieren | |
und eine unbemerkte Metamorphose durchlaufen könne. Darüber grübelt die | |
Autorin in ihrem Buch „An das Wilde glauben“ (2021). Sie weiß, dass sie | |
wieder ein „Gleichgewicht“ braucht, „das ein Zusammenleben der Elemente a… | |
divergierenden Welten erlaubt, und dass sie ihre aufgerissene „Insularität“ | |
wiederherstellen muss. „Heute Morgen sagte ich mir, ich müsse vor allem mit | |
dem Wollen aufhören.“ | |
Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit über den „Animismus“ besteht aus ihrer | |
Krankengeschichte. Aber das ist nur der Prolog, denn ihr Buch endet mit dem | |
Satz: „Ich fange an zu schreiben.“ Der Lehrer von Nastassja Martin, | |
Philippe Descola, der den „Animismus“ gewissermaßen rehabilitierte, hatte | |
gemeint, „die Bären machen uns ein Geschenk“, dieser Satz beinhaltet für | |
die Autorin den Gedanken, „dass ein Dialog mit den Tieren möglich ist“. | |
Ihre Romantik zielt auf eine Ökologie ohne Natur, wie der US-amerikanische | |
Philosoph Timothy Morton sie nannte, auf eine Überwindung des Gegensatzes | |
Kultur-Natur. Das ist nicht immer zu verbinden mit den Rekonstruktionen | |
ihres Selbst nach ihrer „Verwüstung“. Jeden Abend versucht sie sich zu | |
erinnern, was in den Wochen und Stunden vor dem Kampf mit dem Bären war, | |
„die dem Kipppunkt meines Lebens vorausgegangen sind“. | |
## Schmerzen nach Attacke | |
Im Pariser Krankenhaus soll sie ihre Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 | |
einordnen. Aber sie denkt eher daran, dass sie all die „medizinischen | |
Prüfungen durchmacht, weil es ein ‚Wir‘ gegeben hat“. Man gibt ihr | |
Morphium. Die Operationen verlängern die Liste ihrer „in der Schlacht | |
verlorenen Teile: Etwas Haut, meine Haare, drei Zähne, ein Stück Knochen | |
und jetzt auch noch ein Lymphknoten.“ Wie soll sie sich da | |
vervollständigen? | |
Bei ihrer Rückkehr nach Kamtschatka fragen ihre Freunde im Wald sie als | |
Erstes: „Hast du dem Bären vergeben?“ Ja, sagt sie. „Er wollte dich nicht | |
töten, er wollte dich zeichnen.“ Sie erinnert sich an ein langes Gespräch | |
in der Jurte: „Wir redeten über die Geister der Tiere, über die, die uns | |
auserwählen, noch bevor wir ihnen begegnen.“ | |
Die russische Fotografin Olga Barantseva ließ 2021 für ein „Statement gegen | |
die Bärenjagd“ einen Zirkusbraunbären im Wald mit einigen wenig bekleideten | |
Mädchen posieren: Er umfasste sie sanft und küsste sie. Eines der jungen | |
Models meinte anschließend: „Von ihm umarmt zu werden und ihn mein Gesicht | |
und meine Hände ablecken zu lassen, war eine ganz besondere Erfahrung.“ | |
21 Aug 2023 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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