# taz.de -- Multitaskingsfähigkeit von Frauen: Hartnäckiger Mythos | |
> Das Klischee besagt, dass Frauen mehrere Dinge gleichzeitig erledigen | |
> können, Männer aber nicht. Wissenschaftlich haltbar ist die These nicht. | |
Bild: Multitasking ist eine Überforderung | |
Zwanzig bis vierzig Versuchspersonen sitzen vor einem Bildschirm, darauf | |
abgebildet ist ein Kreis. Ähnlich wie bei einem Sehtest sollen die | |
Proband:innen den Kreis links, rechts oder mittig lokalisieren. | |
Gleichzeitig hören sie über Kopfhörer verschiedene Töne, die sie als tief | |
oder hoch einstufen sollen. Die Studie, durchgeführt vom Psychologen Tilo | |
Strobach, dauert etwa eine Stunde. Das hat vor allem praktische Gründe: | |
Müssen Proband:innen länger an den Aufgaben sitzen, lässt ihre | |
Konzentration nach. | |
In seinen [1][experimentellen Studien] untersucht Strobach die | |
Reaktionszeit der Versuchspersonen. Diese bemisst sich im | |
Millisekundenbereich. Die Proband:innen benötigen deutlich länger, die | |
Aufgaben zu lösen, wenn sie mehr als eine Aufgabe gleichzeitig bearbeiten. | |
Strobach misst die Reaktionszeit, weil es sich beim Multitasking im | |
wissenschaftlichen Sinne gar nicht um das gleichzeitige Ausführen mehrerer | |
Tätigkeiten handelt, sondern um das schnelle Hin- und Herwechseln zwischen | |
verschiedenen Aufgaben. Während des Wechsels wird die Aufmerksamkeit von | |
einer Aufgabe auf die nächste umgelenkt, das dauert eine gewisse Zeit. In | |
der Fachsprache spricht man vom Switching. | |
Dieses Wissen ist außerhalb der Naturwissenschaften aber nicht verbreitet. | |
„Dass das menschliche Gehirn grundsätzlich nicht fähig ist, sich auf | |
mehrere Dinge gleichzeitig zu konzentrieren, weiß man schon lange“, erklärt | |
die Psychologin Anja Baethge, die wie Strobach an der Medical School | |
Hamburg forscht. Im Alltag verstünden wir unter Multitasking jedoch genau | |
das: verschiedene Aufgaben, die parallel erledigt werden. „Stellen Sie sich | |
einen Koch vor, der Brot in den Backofen schiebt und gleichzeitig eine | |
Tomatensauce zubereitet. Es sind zwei Aufgaben, aber der Koch selbst | |
konzentriert sich immer nur auf eine einzelne Sache“, erklärt Baethge. Da | |
der Wechsel blitzschnell erfolgt, käme es uns vor, als würde beides | |
parallel ablaufen. | |
Dass sich das Klischee der multitaskingfähigen Frauen trotzdem hartnäckig | |
hält, begründet die Wissenschaftlerin mit den Aufgaben, die Frauen aufgrund | |
ihres Geschlechts aufgedrückt werden. Es handelt sich dabei meist um | |
Haushaltstätigkeiten wie ein weinendes Kind beruhigen, den Topf umrühren | |
und dabei gleichzeitig ein Hemd bügeln. | |
## Zwei Dinge gleichzeitig tun? | |
„In Wahrheit können Frauen auch nicht zwei Dinge gleichzeitig machen. Wenn | |
uns das so erscheint, liegt es vermutlich daran, dass sie in der | |
vermeintlichen Multitaskingsituation Tätigkeiten ausüben, in denen sie | |
geübt sind und die sie fast automatisiert erledigen können“, sagt Baethge. | |
Motorische Fähigkeiten wie Fahrrad fahren oder Spazieren gehen und | |
gleichzeitig Radio hören fallen beim Switching aus dem Schema, da es sich | |
um automatisierte Bewegungen handelt, die keine zusätzliche Konzentration | |
benötigen. | |
Die Entwicklungspsychologin Mareike Altgassen erklärt, dass sich das | |
Switching im Präfrontalen Cortex (PFC) abspielt, also dem Hirnareal, das | |
direkt hinter der Stirn liegt. [2][Der PFC ist das Organisationszentrum]: | |
Hier planen wir unsere nächsten Schritte, entscheiden uns zwischen | |
verschiedenen Optionen oder lösen Probleme. Der PFC ist vor allem dann | |
wichtig, wenn wir neue oder unerwartete Erfahrungen machen. „Wenn wir vor | |
einer Baustelle stehen, müssen wir schnell überlegen, ob es sinnvoll ist, | |
zu warten oder herumzufahren. Dafür brauchen wir unsere kognitiven | |
Kontrollprozesse“, sagt Altgassen. | |
Das Switching fällt in den Aufgabenbereich des PFC. Studien [3][erkennen | |
keine Unterschiede] zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht | |
bezüglich der Switching-Fähigkeiten. Bei anderen Personengruppen beobachtet | |
Altgassen aber durchaus Defizite: „Bei Menschen mit ADHS und Autismus, aber | |
auch bei Kindern und Jugendlichen sowie älteren Erwachsenen sind die | |
exekutiven Funktionen eingeschränkt“, sagt die Psychologin. Zu den | |
exekutiven Funktionen zählen viele der Prozesse, die sich im PFC abspielen, | |
wie auch das Switching. | |
Diese Funktionen benötigen sehr lange, um sich vollständig zu entwickeln. | |
Sie sind mit etwa 21 Jahren ausgereift, so die Psychologin. Sie bauen | |
jedoch bereits mit etwa 25 bis 30 Jahren wieder ab, weshalb das Switching | |
Kindern und alten Menschen schwer fällt. Das führt aber nicht etwa dazu, | |
dass zwischen dem 21. und 25. Lebensjahr bessere Entscheidungen getroffen | |
werden. Wichtige Lebensentscheidungen hängen nicht von der Schnelligkeit | |
der Entscheidungsprozesse ab, so Altgassen. | |
Ähnlich wie Kinder im Laufe des Lebens lernen, effektiver von einer Aufgabe | |
zur anderen zu wechseln, können Erwachsene diesen Prozess trainieren. Tilo | |
Strobach nutzt seine wissenschaftlichen Experimente dafür, um die | |
Leistungsfähigkeit von Menschen beim Lösen von Doppelaufgaben zu fördern. | |
Für das Experiment untersucht Tilo Strobach 20 Tage lang, inwieweit sich | |
Proband:innen bei den Übungen verbessern und ob ältere Versuchspersonen | |
auf das Niveau von Jüngeren kommen können. Er stellt dabei fest: Es ist | |
durchaus möglich, durch ein Training die eigenen Switching-Fähigkeiten zu | |
verbessern. | |
13 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5385484/ | |
[2] https://www.nature.com/articles/s41598-020-80866-1 | |
[3] https://www.researchgate.net/publication/344287961_EXPRESS_Gender_Differenc… | |
## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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