| # taz.de -- 100-Tage CDU-geführtes Berlin: „Der Lackmustest kommt noch“ | |
| > Ein Gespräch mit dem Grünen-Urgestein Wolfgang Wieland über den | |
| > Machtwillen von Kai Wegner und die Fehler der Grünen. | |
| Bild: Heute braucht es mehr als Schultheiss und Hund: Kai Wegner beim Lesbisch-… | |
| taz: Herr Wieland, haben Sie Kai Wegner unterschätzt? | |
| Wolfgang Wieland: Ja. Ihm fehlt eigentlich alles, um Regierender | |
| Bürgermeister zu werden. Keine Verwaltungserfahrung, keine | |
| Regierungserfahrung, wenig Ausstrahlung. Was er aber an Übermaß hat, ist | |
| Durchsetzungsstärke und Machtwillen, jedenfalls innerparteilich. | |
| Dass Wegner Regierender Bürgermeister wird, war für Sie demnach undenkbar? | |
| Das habe ich ihm auch direkt gesagt, als ich ihn nach seiner Wahl bei einer | |
| Kranzniederlegung getroffen habe. Er antwortete dann, damit habe überhaupt | |
| niemand gerechnet – „nur ich“. Das muss man sich mal vor Augen führen, | |
| angesichts der Rückschläge, die er weggesteckt hat. | |
| Was meinen Sie? | |
| Er war Generalsekretär der Berliner CDU und wurde durch Stefan Evers | |
| abgelöst. 2021 wurde er Spitzenkandidat bei den Abgeordnetenhauswahlen und | |
| die CDU landete auf Platz drei. Und nur, weil diese Wahl 2022 wiederholt | |
| werden musste, lag er auf einmal vorn. Nicht kraft eigener Stärke, sondern | |
| weil die Konkurrenz versagt hat … | |
| … die SPD und Ihre eigene Partei, die Grünen. | |
| Und dann kam noch der absolute Zufall dazu, dass die eigentlich | |
| regierungsfähige SPD freiwillig darauf verzichtet hat, den Führungsanspruch | |
| zu stellen. [1][So viel musste erst mal zusammenkommen], bis er den Job | |
| erreicht hat. | |
| Was sagt uns das für Wegners Zukunft? | |
| Gar nichts. Aber wer jetzt glaubt, bei der nächsten Wahl ist er weg, | |
| erliegt einem Irrtum. Das haben wir auch schon mal mit Eberhard Diepgen | |
| erlebt … | |
| … der letzte Berliner Regierende mit CDU-Parteibuch. | |
| Den hatte auch niemand auf dem Zettel, als Richard von Weizsäcker 1984 das | |
| Amt als Regierender Bürgermeister aufgegeben hatte und Bundespräsident | |
| wurde. Wir haben uns damals alle über den blassen Eberhard lustig gemacht. | |
| Der blieb dann aber sehr lange. | |
| 16 Jahre insgesamt, unterbrochen von einem zweijährigen rot-grünen | |
| Regierungsintermezzo vor der Wende. | |
| 2001 wurde Diepgen dann eigentlich nur durch die Berliner Bankenaffäre aus | |
| dem Amt gekegelt. | |
| Gibt es so etwas wie ein Prinzip Kai Wegner? | |
| Nicht, dass ich wüsste. Offenbar ist er aber ein erfolgreicher | |
| Strippenzieher, der es schafft, Seilschaften hinter sich zu bringen. Mir | |
| ist aber nicht bekannt, dass er da [2][mit unfairen Mitteln] gearbeitet | |
| hätte. Teile der Berliner CDU – ich sage nur Bezirksverband Zehlendorf – | |
| sind ja als ziemlicher Intrigantenstadl bekannt, da wurde wirklich mit | |
| Tiefschlägen und gefälschten Wahlen gearbeitet. Das kann man Kai Wegner | |
| nicht nachsagen. Er hat auf sein Ziel hingearbeitet, er hat es mit offenem | |
| Visier getan, er wurde nur nicht ernst genommen. | |
| Wegner vermischt gern Politisches mit Privatem. Stichwort Sellerie. Den | |
| neuen Partner seiner Ex-Frau, Patrick Sellerie, machte er zu seinem | |
| persönlichen Referenten. | |
| Keine Ahnung, ob das stabilisiert, den Partner der Ex-Frau um sich zu | |
| haben. Aber natürlich stilisiert sich Wegner als Normaler aus der Vorstadt. | |
| Aus Spandau, wo er wohnt und aufgewachsen ist. | |
| Mit dem Hund auf den Rieselfeldern, einer wie ihr sozusagen. Das ist früher | |
| auch ein Erfolgsrezept der Westberliner CDU gewesen, dieses | |
| Schrebergartennahe, Schultheiss-Bier in der Hand – das ist die alte | |
| Attitüde. Aber nun wird es spannend, das reicht heute nicht mehr so wie in | |
| den 80er Jahren knapp an die 50 Prozent der Wählerstimmen für die CDU | |
| heran. | |
| Seit der Wende hat sich die Berliner Bevölkerung stark verändert. | |
| Wegner stellt das ja selber fest, dass die Stadt zweigeteilt ist zwischen | |
| grüner Innenstadt und schwarzer Peripherie. Sein Versprechen ist, er will | |
| das versöhnen. Na ja, das muss man mal sehen. | |
| Was für ein Zeugnis würden Sie ihm nach 100 Tagen ausstellen? | |
| Die Frage ist richtig gut. Wie finden Sie Kai Wegner? (lacht amüsiert). Ich | |
| finde ihn gar nicht. Was seine Verkehrssenatorin betrifft und die | |
| Justizsenatorin, die wegen ihrer früheren Tätigkeit beim Bundesamt für | |
| Verfassungsschutz mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht worden war, kann | |
| ich nur sagen: Hilfe! | |
| Wegner war einer der ersten, der den Bundesvorsitzenden der Union, | |
| Friedrich Merz, für dessen Aussagen über die AfD kritisierte. Was, vermuten | |
| Sie, war sein Kalkül? | |
| Wenn Wegner, wie er es angekündigt hat, [3][von rechts in die Mitte | |
| wandert], dann freuen wir uns doch und rätseln nicht öffentlich über Kalkül | |
| herum. | |
| Als Chef der Jungen Union hat Wegner früher selbst Rechtsaußen-Positionen | |
| vertreten. Hängt er sein Fähnlein nach dem Wind? | |
| Ich bin nicht dafür, ihm sein Schuldregister aus Zeiten der Jungen Union | |
| vorzuhalten. Das ist wirklich lang her. Der Verdacht, dass er sein Fähnlein | |
| nach dem Wind hängt, besteht aber ohne jede Frage. Er ist ja auch zu uns, | |
| den Grünen, betont freundlich, nachdem er die Perspektive hatte, eventuell | |
| muss ich ja mit den Grünen. Der Lackmustest wird noch kommen. Angesichts | |
| der hohen AfD-Werte ist die entscheidende Frage aber eine ganz andere. | |
| Die wäre? | |
| Steht die Brandmauer gegen die AfD? Wir Grüne dürfen nicht den Fehler von | |
| Merz machen und die CDU zum Hauptgegner zu erklären. | |
| So wie Merz das mit den Grünen macht. | |
| Genau. Hauptgegner ist die AfD. Wenn ich deren Umfragewerte sehe, wird mir | |
| angst und bange. Deswegen will ich in Zukunft nicht auf Kai Wegner | |
| einprügeln müssen, sondern auf die AfD, und nach Möglichkeit mit allen | |
| demokratischen Parteien gemeinsam, ohne die Unterschiede zwischen uns zu | |
| verwischen. | |
| Apropos Unterschiede. Davon, dass die Grünen im Verkehrsbereich so lange | |
| die Verantwortung hatten, ist wenig zu spüren. Wie sehen Sie das? | |
| Man kann schon mal fragen, wo nach sechs Jahren grüner Verantwortung die | |
| schönen autofreien Plätze sind, auf denen man sich gerne aufhält. Wo | |
| wirklich eine Verkehrswende eingetreten ist, die der Bevölkerung einen | |
| Mehrwert bringt. Da denke ich, haben wir viel Grund zur Selbstkritik. | |
| Pop-up-Radwege zumindest waren eine gute Erfindung. | |
| Das sehe ich auch so. Das ist vor allen Dingen ein Verdienst der grünen | |
| Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann mit Unterstützung der | |
| Coronapandemie. In meinem Wohnumfeld an der Skalitzer Straße und am | |
| Kottbusser Damm geschützte Radwege zu haben – dass ich das noch erlebe! | |
| Gerechnet hatte ich damit ehrlich gesagt nicht mehr, wo ich jahrzehntelang | |
| unter Lebensgefahr diese Straßen benutze. | |
| Inwieweit nehmen Sie noch Einfluss auf grüne Politik? | |
| Ich verfolge sie noch, ich diskutiere auch mit. Ich verstehe mich als | |
| sogenannten Elder Statesman, der aber nicht den Weisen vom Berg spielen | |
| möchte. | |
| Dennoch. Was würden Sie den Berliner Grünen für die Zukunft raten? | |
| Runter vom Verbalradikalismus in Verkehrsfragen, das hat uns bei der Wahl | |
| das Genick gebrochen. Eine realistische Verkehrspolitik konzipieren, aber | |
| auch nicht darauf warten, bis der Letzte sein Auto freiwillig stehen lässt. | |
| Und sonst? | |
| Konstruktive Oppositionspolitik aus den Gründen, die ich bereits sagte. | |
| Mehr als 30 Prozent für die AfD in Sachsen und in Thüringen – das ruft bei | |
| mir Assoziationen hervor. Das ist Priorität. Die Frage Krieg und die Frage | |
| Klimawandel ist Priorität, die Flüchtlingsproblematik auch. Wir haben eine | |
| Menge Krisen. Da darf ich mich nicht in Nebenfragen verdaddeln, ob ich mein | |
| Kind noch Indianerhäuptling spielen lassen darf. | |
| 4 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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