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# taz.de -- Umgang mit Faschismus: Neben der Vernunft
> Wie umgehen mit politischer Paranoia? Denn auch diese Krankheit hat nicht
> nur Symptome, sie hat auch Ursachen.
Bild: Wie soll man das verstehen, ohne den Glauben an seine Mitmenschen zu verl…
Nahezu überall in Europa das gleiche Bild: Autoritäre, populistische,
antidemokratische, rechtsextreme, neofaschistische Bewegungen und Parteien
erhalten Zulauf, gewinnen an Einfluss und kommen hier und da an die Macht.
Sie können lügen, dass sich die Balken biegen, sie können ihre Inkompetenz
und Korruption performativ ausleben, sie können das Recht beugen, zeigen,
wie wenig ihnen Menschenleben und Umwelt wert sind. Die Maske bürgerlicher
Biedermänner und Biederfrauen brauchen sie schon lange nicht mehr. Sie
werden offensichtlich gewählt, nicht obwohl sie so sind, sie werden
gewählt, weil sie sind, was sie sind. Nämlich: Faschisten.
Man hat Angst vor dieser Faschisierung und [1][vor ihren „konservativen“
Mitläufern]. Aber es gibt noch ein anderes Empfinden: Ein fundamentales
Nichtverstehen. Wie kommen Menschen, denen es so gut geht, dazu, so böse zu
sein und, mehr noch, nach einem staatlichen und gesellschaftlichen System
für ihre Bosheit zu verlangen?
Gewiss, es gibt äußere Umstände für diesen Trend zur Faschisierung: Soziale
und familiäre Unsicherheit, die allfällige Rhetorik und die Versprechen der
Demagogen, die ihrerseits von Kräften finanziert werden, die im
Fortbestehen der Demokratie nur ein Hindernis für Rendite und Macht sehen,
Kränkung, Erschöpfung, Retromanie, die „sozialen Medien“ als
Radikalisierungskammern, das Verlangen nach der Verdrängung der großen
ökologischen und sozialen Katastrophen, ein Empfinden der Macht, eine
Ästhetik der Gewalt, die Gemeinschaftslust der Täter, Identitätssucht …
## Ein irrationaler Rest bleibt
Vielleicht auch ein Mangel an attraktiven Lebensentwürfen von der
Gegenseite. Entsetzliche Lücken in Erziehung, Bildung und öffentlicher
Aufklärung. Noch mehr ist zu finden: eine Theorie der Faschisierung in
Europa muss auf vielen verschiedenen Erkenntnismodellen aufbauen, von der
Soziologie über die Psychologie bis zur Semantik.
Und doch bleibt da ein irrationaler Rest, der sich aller Analyse zu
entziehen scheint, eine Black Box der Wanderung von bürgerlichen
Biedermännern und -frauen zu einem Welt- und Menschenbild, das sein
verbrecherisches Wesen hinreichend offenbart hat. Einer, der sich im
Bierzelt als „anständig“, „fleißig“ und „vernünftig“ adressieren…
will unbedingt wieder dorthin, wo die Väter und Großväter waren. Gerade mal
ein Lebensalter nach Auschwitz.
## Man richtet sich ein
Wie soll man das verstehen, ohne den Glauben an seine Mitmenschen zu
verlieren? Auch angesichts eines politischen Mainstreams, in dem man den
Kopf in den Sand steckt, vorauseilend sich anpasst, freiwillig abschafft,
was kulturell der Faschisierung Widerstand entgegensetzen könnte? Seit
niemand mehr an die Mär von den Protestwählern glaubt, richtet man sich
ein. Wird schon nicht so schlimm werden, das bisschen Faschismus oder
Postfaschismus oder Faschismus, der nicht so genannt werden darf.
Wenn alle vernünftigen Erklärungsversuche abgehakt sind, bleibt nur noch
ein Ausfall in den Bereich des Irrationalen. Einer der Zonen, durch die man
da hindurch muss, könnte den Namen „politische Paranoia“ erhalten. Hier
liegt einer der verborgenen Impulse dafür, warum dein Nachbar nun bei
Pegida- und AfD-„Spaziergängen“ dabei ist, von Umvolkung schwadroniert und
die Grünen als Hauptfeind definiert, weil sie einem Bratwürste und
Autobahnen verbieten wollen, und der sich auf keine noch so
offensichtlichen Fakten mehr einlassen will, weil die alle von der
Lügenpresse und grünlinksversifften Eliten stammen.
[2][Paranoia] (von altgriechisch parà, „neben“, und noûs, „Verstand“)
bedeutet, dass etwas neben oder außerhalb der Vernunft existiert. Kaum ein
Mensch, kaum eine Familie, eine Gemeinschaft, eine Religion, ein
Staatswesen, das frei von paranoiden Schüben wäre. Das heißt also, dass es
ein höchst kompliziertes Geflecht zwischen dem Alltagsverstand und dem
gibt, was neben ihr/gegen ihn existiert und parallel zu ihm wahrgenommen
oder „eingebildet“ wird.
Lassen wir das klinische Bild einer Paranoia in einem Subjekt beiseite;
dies gehört in den Bereich der Medizin und der Privatsphäre. Wenn man von
politischer Paranoia spricht, meint das also keine direkte Diagnose zur
individuellen Erkrankung: Trump, Meloni, Orbán, Le Pen, Bolsonaro, Putin,
Höcke … Nicht als paranoide Subjekte, sondern als Repräsentanten einer
politischen Paranoia sind sie Gegenstand antifaschistischer Kritik.
## Ein Denken und Wahrnehmen
Politische Paranoia meint ein Denken und Wahrnehmen, das auf diese
ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zurückzuführen ist: Menschen, Milieus,
Meinungen und Mythen begeben sich auf eine Seite neben der Vernunft. Das
heißt: Wir sehen zu, wie ein Diskurs krank wird. Wie eine Sprache krank
wird. Wie eine Kultur krank wird. Diese Krankheit hat nicht nur Symptome,
sie hat auch Ursachen.
Und sie hat diese Dialektik: Die krankhafte Reaktion ist ein missglückter
Versuch der Selbstheilung. Wenn also aus der Paranoia Propaganda und aus
der Propaganda das Verbrechen wird, geht es, wie im richtigen Leben, darum,
mit etwas fertigzuwerden, was man nicht erkennen darf. Paranoia ist eine
Reaktion auf Angst, und Angst entsteht durch die Unmöglichkeit, das zu
erkennen, was einen bedroht. Eine Flucht vor der Wahrheit.
Man flüchtet in den Bereich neben der Vernunft, weil innerhalb des
vernünftigen Systems Widersprüche, Kränkungen, Provokationen, Niederlagen,
Bedrohungen auftauchen, denen man nicht gewachsen ist. Politische Paranoia
entsteht, wenn Systeme, Semantiken, Erzählungen oder Bilder der Wahrheit
nicht gewachsen sind.
Wenn eine Paranoia ausgebrochen ist, dann ist der Appell an Vernunft und
Moral vollkommen sinnlos. Auch ist vergleichsweise unerheblich, ob man es
mit Zuwendung oder Abweisung versucht. Heilung ist nur möglich durch den
schwierigen Weg zurück zu den Ursachen.
23 Aug 2023
## LINKS
[1] /AfD-und-Friedrich-Merz/!5949667
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Paranoia
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
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postfaktisch
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