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# taz.de -- Kulturkampf als rechtes Framing: Kultur schafft sich selbst ab
> Die Kultur geht unter, wenn sie rein marktwirtschaftlich geregelt wird.
> Besonders bei rechten Akteuren zeigt sich: Es verschwindet alles, was
> widerspenstig und aufregend ist.
Bild: Was ist überhaupt Kultur und er bestimmt, was gezeigt werden darf?
Auch wenn immer irgendwas los ist, kommt man doch manchmal ins eher
fundamentale Grübeln, mitten im Sommer. Zum Beispiel darüber, was
eigentlich mit unserer Kultur los ist und was das überhaupt ist: Kultur.
Wahrscheinlich gehört „Kultur“ zu den Worten, die nur funktionieren, wenn
man akzeptiert, dass damit mehrere verschiedene, aber miteinander
verbundene Dinge gemeint sind. Man könnte sich ja mal drei grundsätzliche
Bereiche vorstellen, für die das Wort „Kultur“ irgendwie angemessen sein
könnte. Das Erste kommt aus dem Feld der materialistischen
Gesellschaftsforschung und behauptet: Kultur ist, wie der ganze Mensch
lebt.
Das heißt, Kultur ist die Art, wie wir in einer Supermarktkassenschlange
anstehen, wie oft wir uns eine neue Zahnbürste leisten oder ganz allgemein,
wie wir mit uns selbst und mit den anderen umgehen. Kultur ist, was uns
dazu bringt, mit Würde, Respekt und Empathie miteinander zu leben.
Die zweite Vorstellung widerspricht oder ergänzt da, wie man es nimmt:
Kultur ist gerade das, was über den Alltag und das Benehmen darin
hinausgeht, ein Experimentieren mit dem, was nicht gewöhnlich ist, eine
Erfahrung jenseits der Codes und der Riten, kurz gesagt: ein freier Raum
der Möglichkeiten für Fantasien, für die Kritik des Bestehenden und die
Sehnsucht nach dem Anderen.
Und mit der dritten Definition von Kultur wird man speziell. Kultur ist ein
gesellschaftliches Subsystem wie die Wissenschaft, die Religion, die
Medizin oder der Sport, in dem es professionelle Arbeit ebenso gibt wie
öffentliche Debatten. Diese Kultur hat nicht nur eine Funktion, und sie ist
nicht nur immer auch mit ihrer eigenen Erforschung beschäftigt, sie hat
auch eine politische Ökonomie.
## Wie die Luft zum Atmen
Kultur ist etwas, das wie die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken und
das Recht auf Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit niemals allein
marktwirtschaftlich geregelt werden kann. Eine Gesellschaft, die an Kultur
nur hervorbringt, was der Markt hergibt, darf getrost barbarisch genannt
werden.
Für die Praxis hat August Everding einst ein schönes Beispiel angeführt:
Ich, sagte er, bin in meinem ganzen Leben noch nicht in ein Freibad
gegangen. Und trotzdem zahle ich mit Freuden meine Steuern, damit Menschen
ins Freibad gehen können. Ist es deswegen nicht durchaus gerecht, dass
diejenigen, denen ich mit einem Euro zum Besuch des Freibades verhelfe, mir
mit fünf Cent ermöglichen, ins Theater zu gehen?
Und wenn jemand, wie der Schreiber dieser Zeilen, sowohl ins Freibad als
auch ins Theater gehen möchte, dann muss er es wohl sehr direkt spüren,
dass Kultur in jeder Hinsicht eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist.
Der Kulturkampf, wie ihn die Rechten wollen, beginnt, wenn die im Freibad
glauben, dass die im Theater schuld daran sind, dass das Freibad so
heruntergekommen ist, und wenn die im Theater glauben, die im Freibad seien
schuld am Niedergang des Theaters.
Eine Gesellschaft kann man nicht nur anhand der versicherungspflichtigen
Privatfahrzeuge oder der Anzahl häuslicher Unfälle, sondern auch an ihrer
(dreifachen) Kultur messen. Beides ist nun aber auch wieder auf vertrackte
Weise dialektisch miteinander verbunden: Kultur erzeugt Gesellschaft, so
wie Gesellschaft Kultur erzeugt.
## Kräfte der Entkultivierung
Vom harten Kern der Kultur, von den professionell geführten Debatten, der
demokratisch vermittelten Kunst, der verantwortungsvoll-freien Presse oder
den selbstverwalteten Szenen aus, strahlt „Kultivierung“ auf alle anderen
Lebensbereiche aus. Dann gibt es eine Kultur der Arbeit, eine Kultur der
politischen Auseinandersetzung, eine Kultur der Geschlechterordnungen und
der Sprachen des Begehrens, eine Kultur des Straßenverkehrs, eine Kultur
des Freizeitverhaltens usw.
Oder es gibt sie eben nicht, denn so wie es die Anstrengungen der
Kultivierung gibt, gibt es die Kräfte der Entkultivierung. Wer jetzt und
hier die größte Kraft der Entkultivierung bildet, ist nicht zu übersehen:
Es ist die Idee der radikalen Vermarktung und Selbstvermarktung, der wir
den Namen „Neoliberalismus“ gegeben haben, und es ist der Rechtspopulismus,
der ganz offen bereits einen [1][„Kulturkampf“ ausgerufen] hat, der für
erstaunlich viele Menschen attraktiv scheint. Auch hier geht es um drei
„Schlachtfelder“: die Eroberung kultureller Institutionen und Instanzen,
die semantische und ideologische Hegemonie in den öffentlichen Medien und
die Vernichtung des widerständigen, utopischen und queeren Geistes in der
Kultur.
Es nutzt nichts, es zu leugnen: [2][Der Kulturkampf der Rechten zeigt seine
ersten gravierenden Folgen.] Die Rechte drängt in Entscheidungsgremien. Sie
entfaltet Drohpotenzial gegen unliebsame Institutionen und Personen. Sie
bringt nicht nur eigene Medien auf den Kulturmarkt, sondern findet
Komplizen im Entertainment. Das Bild eines „Layla“ grölenden
„Christdemokraten“ brennt sich als Signal ein: Zum Teufel mit Geschmack und
Anstand!
Wir befinden uns in einem Prozess der Entkultivierung. Und nicht zuletzt
einige der einstigen Vorzeigemedien der Demokratie, einschließlich der
öffentlich-rechtlichen, wiederholen den Fehler der „bürgerlichen“ Parteien
in der Politik: Statt eine Widerstandslinie der demokratischen Kultur zu
bilden, folgt man einer Anpassungstaktik an den Populismus. [3][Wenn der
Herr Merz nach einem Wahlsieg der AfD die Grünen als Hauptfeind definiert],
folgt er dem Bild des Herrn Biedermann: Wenn der Mörder ums Haus schleicht,
geht er hin und verprügelt seine Kinder.
Wenn die Kulturkämpfer vom marktradikalen und rechtspopulistischen Lager um
die Häuser der Kultur schleichen, schmeißen die alles raus, was
widerspenstig und aufregend ist, was unter die Oberfläche und übers
Alltägliche hinausgeht. Wie aber steht es um eine Kultur, die sich aus
lauter Angst vor ihren Mördern selbst abschafft?
7 Jul 2023
## LINKS
[1] /Friedrich-Merz-im-Kulturkampf/!5941492
[2] /AfD-Erfolge-bei-Kommunalwahlen/!5941832
[3] /Gruene-reagieren-auf-CDU-Angriff/!5943918
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Kulturkampf
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