# taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Wenn die Recherche in den Knast füh… | |
> Die DJV warnt deutsche Presse vor der Reise in die Türkei. Schlimmer | |
> trifft es die KollegInnen vor Ort, sie riskieren Haftstrafen für ihre | |
> Arbeit. | |
Bild: Der Investivativjournalist Bariş Pehlivan musste letzten Dienstag zum f�… | |
Anfang dieser Woche warnte der Vorsitzende des Deutschen | |
Journalisten-Verbands, Frank Überall, deutsche JournalistInnen vor einer | |
Reise in die Türkei. Anlass war die [1][kurzfristige Festnahme der linken | |
Politikerin Gökay Akbulut] bei ihrer Einreise in Antalya, laut Haftbefehl | |
wegen „Terrorpropaganda“. Akbulut sitzt seit 2007 im Bundestag und gehört | |
der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe an. Nachdem das Auswärtige Amt | |
und die Deutsche Botschaft in Ankara massiv interveniert hatten, wurde | |
Akbulut nach einigen Stunden wieder freigelassen und der Haftbefehl | |
kassiert. | |
Da sich der Vorwurf gegen Akbulut angeblich auf Social-Media-Posts aus | |
vergangenen Jahren bezog, warnte Überall nun alle deutschen JournalistInnen | |
vor der Einreise, die sich irgendwann einmal in sozialen Medien kritisch | |
über die türkische Regierung geäußert haben. Die Erdoğan-Autokratie würde | |
jede KritikerIn als „militanten Staatsfeind“ betrachten. Tatsächlich hat es | |
in der Vergangenheit immer wieder Festnahmen hauptsächlich von | |
Deutsch-TürkInnen gegeben. Dabei ging es in der Regel immer um zwei | |
mögliche Vorwürfe: Propaganda für eine Terrororganisation – gemeint ist die | |
PKK – oder Beleidigung des Präsidenten. | |
Insofern war die Festnahme von Akbulut nichts Neues: Sie ist in der Türkei | |
dafür bekannt, dass sie sich an einer Kampagne für die Aufhebung des | |
PKK-Verbots in Deutschland beteiligt. Andere ParlamentarierInnen wurden | |
schon für weniger festgesetzt. | |
Deshalb sorgte die Warnung an alle JournalistInnen, die Türkei zu meiden, | |
bei KollegInnen in der Türkei doch für ein wenig Verwunderung. Ein | |
deutscher Kollege schrieb, obwohl er es gut findet, dass die Aufmerksamkeit | |
in Deutschland endlich wieder einmal auf die gefährdete Pressefreiheit in | |
der Türkei gelenkt wird, wäre es doch viel wichtiger, sich mit der | |
schlimmen Situation der türkischen Kollegen zu beschäftigen. | |
## Zum fünften Mal in den Knast | |
Ein Beispiel aus diesen Tagen macht deutlich, was der Kollege meint. Bariş | |
Pehlivan, ein 40-jähriger Investigativjournalist, musste letzten Dienstag | |
zum fünften Mal ins Gefängnis, da er eine Haftstrafe im berüchtigten | |
Silivri-Gefängnis für politische Gefangene, die während der Pandemie | |
ausgesetzt worden war, erneut antreten musste. In nahezu allen anderen | |
Fällen, in denen Gefangene während der Pandemie das Gefängnis verlassen | |
durften, blieb die Reststrafe ausgesetzt. Nicht so bei Pehlivan, der für | |
das Regime schon lange ein Ärgernis ist. | |
Er war verurteilt worden, weil er in den Nullerjahren über Folter im | |
Gefängnis recherchiert hatte. Kurz darauf wurde er erneut verhaftet und saß | |
aufgrund gefälschter Belege 19 Monate in Silivri, weil ihm die Vorbereitung | |
eines Staatsstreichs vorgeworfen wurde. Später recherchierte er über die | |
Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Libyen, weswegen er erneut | |
verhaftet und verurteilt wurde. Diese „Reststrafe“ muss er jetzt absitzen. | |
Doch Pehlivan lässt sich nicht einschüchtern. „Ich kenne das Gefängnis“, | |
sagte er vor seinem neuen Haftantritt, „Ich habe keine Angst davor. Was | |
mich bedrückt, ist, dass sich seit 20 Jahren nichts ändert.“ Orhan Bursalı, | |
Kolumnist der Cumhuriyet, ein Veteran des türkischen Journalismus, | |
kommentierte die Verhaftung von Pehlivan wie folgt: „Wenn du in der Türkei | |
ernsthaft über die Machenschaften der Herrschenden recherchierst, landest | |
du im Gefängnis.“ | |
## Der Fall Merdan Yanardağ | |
[2][Diese Erfahrung musste auch Merdan Yanardağ machen.] Der Chefredakteur | |
des Fernsehkanals Tele 1 sitzt seit mehreren Wochen in Untersuchungshaft. | |
Ihm wird vorgeworfen, Terroristen zu unterstützen. Yanardağ hatte eine | |
Diskussionssendung bei Tele 1 über den Strafvollzug in der Türkei moderiert | |
und dabei kritisiert, dass Abdullah Öcalan, Gründungsmitglied der PKK, seit | |
24 Jahren inhaftiert ist. Eine Woche nach der Sendung, am 27. Juni, wurde | |
Yanardağ festgenommen. | |
Viele vermuten, dass es vor allem darum ging, einen der wirkungsvollsten | |
journalistischen Kritiker der Regierung aus dem Verkehr zu ziehen. Der | |
63-jährige Yanardağ ist wie Orhan Bursalı ein Veteran des türkischen | |
Journalismus. Seit den 80ern hatte er bei diversen türkischen Sendern | |
gearbeitet und war auch einige Jahre Generalsekretär der | |
Journalistengewerkschaft. 2017 gehörte er zu den Gründern des | |
linksliberalen Senders Tele 1, der sich im Mai dieses Jahres immer mehr zu | |
einem der wichtigsten Oppositionssender mauserte. Tele 1 begleitete die | |
Debatten innerhalb der Opposition hin zu dem Sechserbündnis, das | |
schließlich bei der Präsidentenwahl gegen Erdoğan antrat. Dabei | |
unterstützte Yanardağ von Beginn an eine Kandidatur von Kemal Kılıçdaroğl… | |
Neben seiner Tätigkeit bei Tele 1 schrieb Yanardağ regelmäßige Kolumnen in | |
der Birgün, eine der wenigen noch existierenden kritischen Tageszeitungen. | |
Er beschäftigte sich neben der Tagespolitik publizistisch in mehreren | |
Büchern mit der historischen Entwicklung des Islam. Zuletzt veröffentlichte | |
er ein Buch über den „Islamofaschismus“. Um sicherzugehen, dass er nicht so | |
bald wieder aus dem Gefängnis herauskommt, hat die Staatsanwaltschaft | |
mittlerweile noch ein weiteres Verfahren wegen Beleidigung des Präsidenten | |
angestrengt. Allein dafür fordert sie acht Jahre Haft. | |
Der Sender Tele 1 wird allerdings nicht nur durch die Verhaftung seines | |
Chefredakteurs geschwächt, er ist auch immer wieder mit mehrtägigen | |
Sendeverboten und hohen Geldstrafen konfrontiert. Spätestens seit dem | |
Erdbeben im Februar im Südosten der Türkei ging die Rundfunkkontrollbehörde | |
RTÜK immer wieder gegen Tele 1, aber auch gegen Halk TV und Fox News vor. | |
Alle drei Sender hatten das Versagen der Behörden im Anschluss an das große | |
Beben angeprangert. Die Folge waren hohe Geldstrafen wegen „demütigender | |
Aussagen über das türkische Volk“ und teilweise Sendeverbote. | |
## Wenn niemand hinguckt | |
Keine Seltenheit in der türkischen Presselandschaft: Immer wieder werden | |
teils mehrtägige Sendeverbote gegen kritische Sender verhängt, so | |
beispielsweise gegen Halk TV im März, nachdem dieses ein neues Buch des | |
inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş vorgestellt | |
hatte. [3][Nach der Wahl] erhielten alle drei Sender Geldstrafen wegen | |
angeblicher Falschaussagen während des Wahlkampfes. Am letzten Wochenende | |
ging Tele 1 nach einer einwöchigen Pause wieder auf Sendung – allerdings | |
nur online. | |
Allerdings sind Sender wie Tele 1, Halk TV und Fox News nur die Spitze des | |
Eisberges, wenn es um die Unterdrückung der Pressefreiheit geht. Diese | |
Sender genießen die Unterstützung der Opposition, die immerhin die Hälfte | |
der Bevölkerung repräsentiert. Ihre JournalistInnen sind bekannt, wenn | |
jemand wie Merdan Yanardağ verhaftet wird, gibt es breite Proteste. Das | |
gilt mit Einschränkungen auch für JournalistInnen der bekannten | |
Oppositionsblätter wie Cumhuriyet oder Birgün. | |
Die meisten inhaftierten JournalistInnen, die von den Behörden in aller | |
Regel gar nicht als JournalistInnen anerkannt werden, arbeiten für kleine | |
pro-kurdische Nachrichtenportale, die im Westen der Türkei kaum jemand | |
kennt. Sie verschwinden als PKK-UnterstützerInnen im Gefängnis, was | |
außerhalb der kurdischen Community kaum noch wahrgenommen wird. | |
Seit der großen Kampagne gegen die Schließung der prokurdischen | |
Tageszeitung Özgür Gündem 2015, wo prominente JournalistInnen und [4][linke | |
Intellektuelle wie die Schriftstellerin Aslı Erdoğan] sich tageweise als | |
ChefredakteurInnen zur Verfügung gestellt hatten, sind kurdische Medien aus | |
der türkischen Öffentlichkeit praktisch verschwunden. Gegen alle diese | |
UnterstützerInnen wurden Verfahren eingeleitet, Aslı Erdoğan und anderen | |
saßen in Untersuchungshaft, einige sind längst im Exil, andere waren für | |
Jahre im Gefängnis. Özgür Gündem wurde anschließend wie viele andere Medien | |
nach dem Putschversuch im August 2016 endgültig verboten. | |
Doch der Regierung gelingt es trotz aller Repression nicht, die Medien in | |
der Türkei völlig zu unterdrücken. Das eigentlich Erstaunliche ist, dass | |
kritische Journalisten trotz aller Repressionen Mittel und Wege finden, um | |
Aufmerksamkeit zu schaffen. Je mehr Aufmerksamkeit diese JournalistInnen | |
auch im Ausland bekommen, umso besser können sie arbeiten. Vielleicht | |
können sich die deutschen Journalistenverbände in dieser Richtung noch | |
etwas mehr engagieren, als sie es sowieso schon tun. | |
18 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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