Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Narrative: Eine ziemlich gute Geschichte
> Lost im Storytelling? Peter Brooks analysiert in „Seduced by Story“ die
> politischen Folgen des „narrative turn“, der auf sämtliche Disziplinen
> übergreift.
Bild: Im Wettbewerb der Erzählungen drohen Wirklichkeit und Geschichte zu vers…
Peter Brooks müsste eigentlich ein glücklicher Mann sein, doch in diesen
Tagen fühlt sich der Literaturwissenschaftler eher wie Goethes
Zauberlehrling. Die Geister, die der 85-Jährige einst rief, sind nicht mehr
in den Zaum zu bekommen.
Wer in den 1980er oder 1990er Jahren Literaturwissenschaft studierte, kam
kaum darum herum, Brooks’ Polemik „Reading for the Plot“ zu lesen. Der
Essay war nicht zuletzt ein Aufbegehren gegen den [1][Strukturalismus],
Brooks plädierte dafür, Geschichten nicht bloß semiotisch zu zerpflücken.
Ihn interessierte vielmehr, wie Texte Erkenntnis und Erfahrung
strukturieren und was sie darüber lehren, wie wir uns mit der Welt ins
Benehmen setzen. „Wir leben unser Leben in Geschichten, wir erzählen sie
nach, wir bewerten die Bedeutung unserer vergangenen Handlungen immer
wieder neu, wir antizipieren die Ergebnisse zukünftiger Projekte und
positionieren uns am Knotenpunkt verschiedener unvollendeter Erzählungen“,
schrieb er damals.
Kurz, das Erzählen ist laut Brooks nicht nur eine zutiefst menschliche
Tätigkeit. Es ist vom Leben nicht zu trennen. Narro ergo sum.
## Paradigma der Kommunikation
Knapp 40 Jahre später scheint es, als hätte die Welt Brooks erhört.
„Storytelling“ ist zum Paradigma jeder Form der Kommunikation geworden. Es
wird ebenso an Journalistenschulen unterrichtet wie in Werbe- und
Branding-Seminaren. Wer auf die Website von Unternehmen der
unterschiedlichsten Branchen geht, wird zuerst auf die „Story“ des Betriebs
geleitet. Was dieser Betrieb eigentlich macht, erfährt man erst später oder
gar nicht.
Der „narrative turn“ in der Wissenschaft ist längst auf einst solide
Naturwissenschaften wie die Medizin übergesprungen. „Narrative Medizin“
wird auch an den renommiertesten medizinischen Fakultäten unterrichtet. Die
Psychologie und die Philosophie sind schon längst affiziert, und auch die
Ökonomie hält dem Ansturm des Narrativen nicht mehr stand.
Vielleicht am nachhaltigsten hat das Primat des Narrativen jedoch die
Politik infiziert. Brooks stieß das zuerst auf, als George W. Bush im Jahr
2000 sein Kabinett vorstellte und beinahe jedes Mitglied mit den Worten
anpries, er oder sie hätte „eine wunderbare Geschichte“. Von den
Qualifikationen der Kabinettsmitglieder war derweil nicht die Rede.
Knapp 20 Jahre später sagte ein resignierter Barack Obama einem
Journalisten, dass er glaube, er habe dem US-amerikanischen Volk „eine
ziemlich gute Geschichte zu erzählen gehabt.“ Allerdings, räumte er ein,
erzähle Trump auch keine schlechte Geschichte.
## Ein Horrorszenario
Für Denker wie Brooks, die man gern auch als „postmodern“ bezeichnet, ist
dieser Stand der Dinge ein Horrorszenario. Die Aufwertung des Narrativen
und des Rhetorischen, die er selbst in den 1970er und 80er Jahren
vorangetrieben hat, scheint gründlich missverstanden worden zu sein. Die
Kultur hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wie er in seinem neuen Buch
„Seduced by Story. The Use and Abuse of Narrative“ analysiert.
Eine Kultur, in der es nur noch darum geht, wer die bessere Geschichte
erzählt, ist auch für Brooks zutiefst verstörend. Wenn Trumps Geschichte
von der Wiederherstellung einer vermeintlich verlorenen Größe Amerikas
Obamas Geschichte vom unvollendeten Projekt der Emanzipation einfach
verdrängen kann, ist etwas faul im Staate.
„Nichts auf der Welt kann eine gute Geschichte stoppen“, zitiert Brooks
Tyrion aus dem TV-Drama „Game of Thrones“. „Das ist wahr“, fügt Brooks…
„Aber Rechtsstaaten zerfallen im Angesicht einer all zu guten Geschichte.
Und Bevölkerungen unterwerfen sich.“
Die gut erzählte Geschichte, die den Rezipienten fesselt und
Endorphinausschüttung auslöst, ist ohne Korrektiv reine Ideologie. Die
großen Ideologien des 20. Jahrhunderts waren verführerische, gut erzählte
Geschichten. Doch sie haben auch unendlich viel Leid angerichtet.
## Der Manipulation ausgeliefert
Was Brooks dann bemängelt, ist, dass wir dabei sind, uns der Fähigkeit zur
Ideologiekritik zu berauben. In einem zunehmend vernunft- und
wissenschaftsfeindlichen Umfeld, das zugleich die Macht der Erzählung
vergöttert, sind wir der Verführung und Manipulation schutzlos
ausgeliefert.
Brooks sieht in diesem bedenklichen Zustand eine Rückkehr in das 18.
Jahrhundert, der Zeit einer ihrer selbst noch ungewissen Aufklärung. Er
verweist auf den unsicheren Status der Erzähler bei Denis Diderot, Daniel
Defoe oder Laurence Stern, die sich abmühten zu erklären, woher sie ihr
Wissen beziehen.
Im 19. Jahrhundert hingegen saß die allwissende ErzählerIn fest im Sattel
und erzählte unbeschwert vor sich hin. Die Freiheit dazu bezog sie aus dem
gesicherten Status der Literatur als Literatur. Henry James konnte bereits
luzide Erzählperspektive und narratives Bewusstsein analysieren. Die
Literaturwissenschaft war geboren.
In der Demontage der Geisteswissenschaften sieht Brooks dann auch eine der
großen Gefahren für unsere Zeit. Allein in der Fähigkeit, Geschichten zu
verstehen und zu analysieren, sieht er ein Bollwerk gegen Ideologie und
falsch verstandene Mythologie. „Das Gewicht der unanalysierten Geschichten,
jene, die als wahre und notwendige Mythen akzeptiert werden, wird uns noch
umbringen.“
## Dinge, die wir nicht verstehen
Die Abschaffung der Narrative und die reine Herrschaft der analytischen
Vernunft ist für den Narratologen freilich kein Ausweg. Der Mensch kommt
für Brooks nicht ohne den narrativen Weltzugang aus. „Wir werden nicht als
kleine Wissenschaftler geboren.“ Stattdessen erfinden wir von Beginn an
Geschichten über jene Dinge, die wir nicht verstehen.
Was jedoch bei dem heutigen Boom des Narrativs verloren geht, ist das
Bewusstsein dafür, dass Geschichten eben nicht die Wirklichkeit sind.
Geisteswissenschaftler wie Brooks müssen uns daran erinnern, was Romanciers
und etwa auch Psychoanalytiker seit dem 19. Jahrhundert wissen.
Das Erzählen und rastlose Revidieren von Geschichten ist ein Labor, ein
Spiel des „Als-ob“. Man kann den Umgang mit der Wirklichkeit ohne
Konsequenzen durchexerzieren. Bei der Anwendung auf die Welt ist jedoch
äußerste Vorsicht geboten.
Als Paradebeispiel für die Dringlichkeit literaturwissenschaftlicher
Kompetenz nennt Brooks das Recht, insbesondere in der Form, wie es in den
USA ausgeübt wird. Obwohl das Rechtswesen fundamental narrativ verfasst
ist, herrsche dort eine frappierende Blindheit gegenüber der Tatsache, dass
es in der Rechtsprechung praktisch ausschließlich um das Erzählen von
Geschichten geht.
## Der „Originalismus“
So arbeitet sich Brooks besonders leidenschaftlich an der US-amerikanischen
Rechtsdoktrin des [2][„Originalismus“] ab, jener Behauptung, die Verfassung
müsse im Sinn ihrer Autoren ausgelegt werden. Dem poststrukturalistischen
Literaturwissenschaftler stellen sich dabei die Haare zu Berge. Die Idee,
man könne die Intentionen der VerfasserInnen von 250 Jahre alten Texten
rekonstruieren, ist für ihn ein Relikt aus den 50er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts.
Der Schaden, der mit dem Originalismus angerichtet wird, ist in den USA
derweil überaus greifbar. Er wird von konservativen Richtern als
Rechtfertigung für alles Mögliche benutzt – vom Recht auf Waffenbesitz und
-gebrauch bis hin zur Abschaffung des Rechts auf Abtreibung.
Brooks’ Gegenvorschlag? Brooks sieht den Text der Verfassung selbst als
Narrativ, als Geschichte, die Amerika sich über sich selbst erzählt. Und
als solche muss sie bei jeder Lesung neu ausgelegt werden. Freiheit und
Selbstbestimmung bedeuten heute etwas anderes als vor 250 Jahren, wer
Zugang zu vollen Bürgerrechten hat ebenso.
Und wenn das System der Wahlmänner das ländliche Amerika disproportional
privilegiert, muss man fragen dürfen, ob es der Sache der repräsentativen
Demokratie noch dient. Von der Notwendigkeit bewaffneter Bürgermilizen zum
Schutz gegen Tyrannei ganz zu schweigen.
## Was bleibt
Dass in Zukunft die amerikanischen Verfassungsrichter die
literaturwissenschaftlichen Fakultäten konsultieren oder an juristischen
Fakultäten mehr Seminare in Textkritik angeboten werden, bleibt freilich
ein frommer Wunsch.
Und ganz sicher werden Politiker und Werbetreibende im harten Wettbewerb um
Stimmen und Kunden kaum die Autorität ihrer eigenen Erzählungen
hinterfragen. Und so bleibt dem einstigen Propheten der Macht der Erzählung
nur ein melancholischer Blick auf die Welt.
22 Aug 2023
## LINKS
[1] https://www.philomag.de/lexikon/strukturalismus
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Originalismus
## AUTOREN
Sebastian Moll
## TAGS
Postmoderne
Kommunikation
Manipulation
Storytelling
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Popmusik
Menschheit
Freiheit
Philosophie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Leipziger Buchmesse: Die Metapher ist ein Arschloch
Die Philosoph:innen Tim Henning, Nikola Kompa und Christian Nimtz
leuchten Abgründe der Alltagskommunikation aus. Ja, Sprache kann
ausgrenzen.
Sänger Olli Schulz über Zeitgeist: „Es ist alles sehr ernst geworden“
Der Musiker Olli Schulz erzählt, warum er die AfD auf dem neuen Album nicht
mit Protestsongs bekämpfen will – und dennoch an eine bessere Welt glaubt.
Philosoph Sloterdijk über Klimawandel: „China ist größter Umweltzerstörer…
Philosoph Peter Sloterdijk über sein neues Buch und eine Menschheit, die
angesichts ihrer globalen Brandstiftung nicht mehr gerechtfertigt werden
kann.
Buch über umkämpften Freiheitsbegriff: Der zwingende Neuanfang
Muss im Zeitalter der ökologischen Krise Freiheit neu gedacht werden? Eva
von Redecker präsentiert ein Plädoyer für eine Verzeitlichung von Freiheit.
Philosoph über Wahnsinn in der Vernunft: „Wahnsinn ist kein Problem“
Daniel Strassberg zeigt, wie sich das Irrationale immer schon mitten in der
Vernunft aufhält. Viele Philosophen sind selbst einem wahnsinnigen Denken
verfallen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.