# taz.de -- Philosoph über Wahnsinn in der Vernunft: „Wahnsinn ist kein Prob… | |
> Daniel Strassberg zeigt, wie sich das Irrationale immer schon mitten in | |
> der Vernunft aufhält. Viele Philosophen sind selbst einem wahnsinnigen | |
> Denken verfallen. | |
Bild: Ausstelllung über Kunst und den Wahnsinn. | |
sonntaz: Herr Strassberg, wie kommen Sie auf den Befund, dass der Wahnsinn | |
mitten in der philosophischen Vernunft lauert und nicht etwa nur deren | |
„andere Seite“ darstellt? | |
Daniel Strassberg: Zunächst war da die Beobachtung, dass der Wahn | |
psychotischer Patienten oft in geradezu irritierender Weise vernünftig ist. | |
Sie sind gar nicht verwirrt, sondern hypervernünftig. Als ich dann mich | |
damit zu beschäftigen begann, wie Philosophen über den Wahnsinn schreiben, | |
ist mir aufgefallen, dass sie selbst einem Denken verfallen, das nach ihrer | |
eigenen Definition wahnsinnig wäre. Der junge Kant definiert zum Beispiel | |
den Wahnsinn als Produkt der schöpferischen Einbildungskraft, dem äußere | |
Realität zugesprochen wird. Wenn man dann seine Vernunftbegriffe Gott, | |
Freiheit und Unsterblichkeit untersucht, auf denen sein philosophisches | |
Gebäude aufgebaut ist, stellt man fest, dass sie genau dieser Definition | |
entsprechen. Mitten in seiner rationalen Philosophie tauchen also an | |
zentraler Stelle wahnsinnige Begriffe auf – selbst nach seiner eigenen | |
Bestimmung. | |
Die Vernunft wäre damit von der Krankheit befallen, für deren Therapie sie | |
sich hält? | |
Mit Diagnosen, wie es um die Vernunft bestellt ist, wäre ich vorsichtig. | |
Ich bin nicht sicher, ob es die Vernunft gibt oder nicht viel eher viele | |
Autoren, die alle durchaus vernünftig denken, aber in unterschiedlicher | |
Weise. Ich habe nur Autoren untersucht, die in irgendeiner Weise mit dem | |
Wahnsinn zu tun haben, entweder als Thema ihrer Philosophie oder weil sie | |
selbst wahnsinnig geworden sind. Und auch da ist die Behauptung, ihr Denken | |
sei vom Wahnsinn befallen, zu einfach. Vielmehr zeigte sich ein Bemühen, | |
den Wahnsinn aus ihrem Denken auszuschließen. Doch meist schleicht er sich | |
unbemerkt durch einen Hintereingang wieder ins Denken ein. Man könnte also | |
sagen, ein Motor ihres Denkens ist die Bewegung von Ausschluss und | |
Einschluss. | |
Wie verallgemeinerbar ist diese Bewegung? Gibt es ein Denken, dass sich | |
nicht um das Problem des Ein- und Ausschlusses des Wahns herumzuschlagen | |
hat? | |
Das ist eine schwierige Frage. Es kommt darauf an, wie hoch man den Begriff | |
des Denkens hängt. Auch jemand, der sich zu einer guten Staatsform, zu | |
ethischen Fragen oder zu Problemen äußert, denkt. Aber ein Denken, das auf | |
das Ganze geht, hat sich wohl mit dem Wahnsinn herumzuschlagen. | |
Was ist das für ein Denken? | |
Seit jeher versucht die Philosophie die Ordnung der Welt als Ganzes zu | |
begreifen: Nach welchen Prinzipien ist sie aufgebaut, wie funktioniert sie? | |
Eine Ordnung herzustellen, heißt immer, Grenzen zu ziehen und damit etwas | |
auszuschließen. Jeder, der sein Zimmer aufräumt, weiß dass man keine | |
Ordnung hinkriegt, wenn man nicht etwas fortwirft. Sobald man aber etwas | |
fortwirft, hat man nicht mehr alles im Blick. Das Denken ist somit zwischen | |
der Ordnung und dem Alles, zwischen der Totalität und der Unendlichkeit, | |
wie das der französische Philosoph Emmanuel Lévinas nennt, hin und her | |
gerissen. An dieser Stelle kommt der Wahnsinn ins Spiel, als Versuch | |
zugleich Ordnung herzustellen und alles zu denken. | |
Ist die historische Tendenz weg vom System hin zur Behandlung von einzelnen | |
Problemen die Selbsttherapie der Philosophie? | |
Tatsächlich ist die Zeit der großen philosophischen Systeme passé. Und | |
damit ist auch der Wahnsinn kein philosophisches Problem mehr. Er wird | |
heute praktisch nur noch unter neurobiologischen Gesichtspunkten | |
verhandelt. Selbst die Psychoanalyse hat sich von der Behandlung | |
psychotischer Patienten und Patientinnen verabschiedet. Allerdings kann man | |
den Abschied vom Wahnsinn auch anders verstehen. Vielleicht ist er kein | |
Problem mehr, weil er ganz in der Philosophie angekommen ist. | |
Wie meinen Sie das? | |
Was früher als Wahnsinn ausgeschlossen wurde, hat sich heute im Denken | |
verwirklicht. Nur ein Beispiel: Dass Zeichen nicht auf Dinge verweisen, | |
sondern nur auf andere Zeichen, galt früher als Kennzeichnung des | |
Wahnsinns. Seit der Postmoderne ist aber die Vorstellung eines | |
Zeichennetzes, das die Welt nicht abbildet, sondern erst erschafft, eine | |
Grundeinsicht vieler Philosophen und Philosophinnen. Deshalb konnte Gilles | |
Deleuze das schizophrene Denken als Vorbild für ein neues, netzartiges | |
Denken nehmen. | |
5 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Schneider | |
## TAGS | |
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