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# taz.de -- Romandebüt „Das fremde Meer“: Prinzen, Luftschiffe und Tagesre…
> Katharina Hartwells Debütroman „Das fremde Meer“ variiert eine tragische
> Liebesgeschichte in immer neuen Bildern. Ein Spiel mit Märchen und Traum.
Bild: Bei Katharina Hartwell wird Liebe zur literarischen Erfindung.
Eine Frau, Marie, trifft einen Mann, Jan. Sie verlieben sich. Heftig.
Maries Gedanken kreisen fast nur noch um Jan. Dann geschieht ein Unglück.
Katharina Hartwells Debütroman „Das fremde Meer“ verwendet ein klassisches
Erzählmotiv, die Rettung aus großer Gefahr, um es hin und her zu drehen.
Durch diverse Stile und Genres hindurch wird dieses Heldenepos, in dem eine
Frau auszieht, einen Mann vor einem übermächtigen Schicksal zu bewahren, in
immer neuer Gestalt inszeniert.
Liebe, genauer gesagt, die romantische Liebe zwischen zwei Menschen, gilt
als bürgerliche Erfindung des 19. Jahrhunderts. Bei Katharina Hartwell ist
die Liebe, von der sie erzählt, im Grunde eine literarische Erfindung,
etwas, das allein im Erzählen weiter bestehen kann. Den realen
Widerständen, die sich in der eigentlichen Geschichte auftun, stellt sie
die fiktiven Abenteuerwelten von Märchen, Fantasy oder Science Fiction
entgegen.
## Ein außer Kontrolle geratener Quantenmechanismus
Da ist die Begegnung von Jonas und Moira – alle Protagonisten-Paare in
diesem Buch haben Vornamen, die mit „J“ und „M“ beginnen – in der
„Wechselstadt“, in der ein außer Kontrolle geratener Quantenmechanismus
ganze Stadtteile auf Nimmerwiedersehen verschwinden lässt. Moira entdeckt
Jonas in einem aufgegebenen Viertel, das kurz vor dem „Wechsel“ steht, und
schafft den fast Gelähmten in letzter Sekunde aus seiner Wohnung fort.
In der zweiten Geschichte wählt Hartwell als Ort der Handlung die
Salpêtrière, die berühmte Pariser Nervenheilanstalt, in der Sigmund Freud
1885 eine kurze Assistenz bei dem Hysterie-Experten Jean-Martin Charcot
absolvierte. Die Ironie daran: Hier ist es ein männlicher Insasse, der
unter den vielen „Hysterikerinnen“ als echte Rarität bestaunt und am Ende
von einer Mitpatientin in die Freiheit geführt wird. Männliche Hysterie gab
es nach damaligem Kenntnisstand überhaupt nicht. Freud wurde für einen
Vortrag über männliche Hysterie seinerzeit sogar heftig kritisiert.
Dass der Patient Jacques heißt, ist eine weitere Ironie und zugleich eine
Verneigung vor dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan. Dieser
ließ Hysterie für beide Geschlechter gelten und sah sie sogar in Fragen wie
„Bin ich ein Mann oder eine Frau?“ zugespitzt. Wie die Leser zuvor erfahren
haben, arbeitet die Ich-Erzählerin an einer Dissertation über Lacan und
schaut sich zu Forschungszwecken einen Dokumentarfilm über die Salpêtrière
an.
## Geschlechtswechsel im Symbolischen
Die hysterische Frage nach der sexuellen Identität wird der folgenden
Episode anschaulich ins Bild gesetzt. Da beschließt eine gelangweilte
Prinzessin, einen Prinzen aus dem verwunschenen „Winterwald“ zu retten, und
vollzieht als ersten Schritt den Geschlechtswechsel im Symbolischen: Aus
ihrem Namen Miranda wird „Miran“. Als dieser trainiert sie eifrig, um ein
Ritter zu werden. Am Winterwald angekommen, muss sie sich auch körperlich
in einen Mann verwandeln lassen, um den mit der Rettungsaktion verbundenen
Strapazen gewachsen zu sein.
Als die vollends zum Ritter verzauberte Prinzessin den Prinzen in seinem
Turmgefängnis samt Glassarg aufspürt und nach bestem Dornröschen-Vorbild
wachküsst, ist der wieder zum Leben Erweckte erst einmal befremdet, weil er
eigentlich eine Prinzessin erwartet hatte. Im Nachhinein muss er aber
feststellen, dass ihm dieser Kuss viel besser gefallen hat als alle Küsse
von weiblichen Mündern, mit denen er zuvor bedacht worden war. Diese
Geschichte ist schon wegen ihrer unbekümmert spielerischen Gender-Travestie
im dicht gewirkten Märchen-Gewand eine der schönsten des Buchs.
Nicht nur die Helden, auch die Gefahren, mit denen diese konfrontiert sind,
werden in zehn verschiedenen Variationen stets neu personalisiert. Da ist
ein „Jäger“, der den Winterwald bewacht, oder ein „Taucher“, der im Me…
lauert. Sie alle beabsichtigen irgendwann ihre Opfer zu holen. Allerdings
sind diese finsteren, oft stummen Gestalten selten als Figuren angelegt,
sondern werden in der Regel bloß als „Abwesenheit“ beschrieben. An Stellen
wie diesen scheint sich die lacanianisch orientierte Doktorandin zu Wort zu
melden.
## Traumwelt auf Traumwelt erschaffen
Selbst die Grundanlage des Buchs lässt psychoanalytisch inspirierte Züge
erkennen: So wird Traumwelt auf Traumwelt erschaffen, um immer neue
Szenarien der Wunscherfüllung zu bieten. Wie Tagesreste tauchen Details mal
an der einen Stelle des Geschehens auf, um in späteren Geschichten in
völlig anderem Zusammenhang wiederzukehren. Ein Engel, den Jonas und Moira
aus einem Keller der Wechselstadt forttragen, wird in einer weiteren
Episode im Maschinenraum eines Geisterschiffs gesichtet.
Corwin und Merwin, zwei imaginäre Freunde der Ich-Erzählerin Marie, mit
denen sie als Kind „spielte“, haben in einer der Geschichten einen Auftritt
als Zirkusdirektoren. Und in der Geschichte vom „Luftschiff“ liest die
Krankenpflegerin Milena dem Patienten Jacob aus einem Buch mit dem Titel
„Das Fremde Meer und andere Geschichten“ vor.
„Das fremde Meer“ ist voll von Querverweisen, die den inneren Zusammenhang
der scheinbar disparaten Geschichten unterstreichen. Viele davon sind
faszinierend komponiert und beeindrucken mit überraschenden Einfällen. Die
Momente hingegen, in denen die theoretischen Fundamente des Buchs an die
Oberfläche drängen, wirken unnötig gespreizt. Am Ende hat man den Eindruck
eines kühn entworfenen Hauses mit herrlich verwirrend eingerichteten
Zimmern, in denen die eine oder andere Ecke von den Handwerkern vergessen
wurde.
16 May 2014
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Liebe
Psychoanalyse
Philosophie
Dietmar Dath
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