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# taz.de -- Nachwahl für das britische Unterhaus: Bye bye, Boris
> Nachdem der britische Ex-Premier Johnson sein Parlamentsmandat
> niedergelegt hat, wählt sein Wahlkreis neu. Nach 53 Tory-Jahren könnte
> nun Labour gewinnen.
Bild: Labour-Kandidaten Jonathan Ashworth, Danny Beales und Shabana Mahmood in …
Uxbridge taz | Es wimmelt nur so von Labour-Unterstützer:innen. Aus
dem ganzen Land sind sie gekommen, alle gut erkennbar an ihren roten
Wahlinformationen. Sie füllen einen beachtlichen Teil der Fußgängerzone vor
dem U-Bahnhof Uxbridge. Die britische Labour-Opposition will am Donnerstag
den Westlondoner Wahlkreis Uxbridge & South Ruislip gewinnen. Der bisherige
Wahlkreisabgeordnete heißt Boris Johnson – der [1][Ex-Premier ist im Juni
von seinem Mandat zurückgetreten], um Sanktionen wegen des
„Partygate“-Skandals um Verstöße gegen Coronalockdownregeln im
Regierungskomplex 10 Downing Street zuvorzukommen.
Nicht erst seitdem bereitet sich der 34-jährige Danny Beales vor, für den
Wahlkreis als Labour-Abgeordneter ins britische Unterhaus einzuziehen. Die
Frührentnerin und ehemalige IT-Beraterin Claire Kenny erzählt der taz in
einem Park nahe dem Zentrum von Uxbridge, wie Beales, bisher Kommunalrat im
Londoner Bezirk Camden, bereits vor vier Monaten vor ihrer Haustür stand,
um sich vorzustellen. „Er war sehr nett“, erinnert sie sich. „Er sagte, er
sei hier geboren, und dass er und seine Familie mal fast obdachlos waren.
Er war jemand, von dem ich glaube, dass er hier etwas verändern kann.“
Es ist in diesem Wahlkreis, seit 1970 in konservativer Hand, jetzt nicht
schwer, Labour-Wähler zu finden. Ein 35-jähriger Hedgefonds-Verwalter
indischer Abstammung grinst an seiner Haustür in der Reihenhaussiedlung
Ruislip Gardens. Es gehe nicht bloß um den „bekannten Übeltäter“ Boris
Johnson, sagt er. „Dass Johnson mit seinem Brexit meinen Kindern den freien
Zugang zur EU für immer vermiest hat, kann ich ihm nicht verzeihen.“ Dass
der konservative Premierminister Rishi Sunak ebenfalls indischen
Familienhintergrund hat, zählt für ihn nicht. „Der ist nicht in der Lage,
ärmere Leute zu verstehen“, glaubt er. Sein Kreuzchen für Labour am
Donnerstag steht fest.
Auch eine 50-jährige ehemalige Apothekerin und Muslimin ist verbittert
gegenüber den Tories. Wegen der stark gestiegenen Hypothekenzinsen während
der kurzen Amtszeit von Liz Truss im vergangenen Herbst, musste sie ihr
Eigenheim aufgeben. „Alles ist teurer und ich lebe heute von Sozialhilfe“,
sagt sie. Sie weiß noch nicht, wen sie wählen soll, aber auf alle Fälle
nicht den Konservativen.
## „Boris hat sich selber fallen lassen“
Konservative findet man eher im gutsituierten Viertel Uxbridge Commons,
hier stehen teure Autos vor großzügigen Einfamilienhäusern. Pamela Clark
will weiter konservativ wählen. „Boris war gut, bis er sich selber hat
fallen lassen“, ist ihr Fazit. Am Donnerstag will die 79-jährige Besitzerin
eines Reiseunternehmens den Tory-Kandidaten Steve Tuckwell wählen, ein
54-jähriger Geschäftsberater und Kommunalrat des Londoner Bezirks
Hillingdon, der in diesem Wahlkreis liegt.
Das will auch Steinbildhauer Ross Brady, 47, der mit seinem Sohn Tommy im
Ladenzentrum shoppt und in South Ruislip lebt. „Ich habe ihn auf
Veranstaltungen in der Gegend getroffen und finde, dass er auf meiner
Wellenlänge und einer von uns ist.“
Alle Tory-Wähler, die die taz an diesem Wochenende antrifft, sind
britisch-weißen Hintergrunds. Diese Gruppe machte bei der Volkszählung 2021
noch 37,1 Prozent der Bevölkerung des Bezirks Hillingdon aus. Zwanzig Jahre
vorher waren es noch 72,5 Prozent. Diese Verschiebung allein mag Labour
einen ungeahnten Vorteil verleihen – obwohl ihr Kandidat auch britisch-weiß
ist.
Diversität scheint bei den Parteien nicht angekommen zu sein. Von den vier
Hauptkandidat:innen – Konservative, Labour, Liberaldemokraten, Grüne –
gibt sich nur Liberaldemokrat Blaise Baquiche als Sohn eines ägyptischen
Einwanderers zu erkennen.
Unter den anderen dreizehn Kandidat:innen sind nur zwei weitere nicht
britisch-weiß: ein Bibelfundamentalist namens „77 Joseph“, dessen Familie
aus Schanghai stammt, und die schwarze Studentin Enomfon Ntefon von der
christlich-fundamentalistischen Christian Peoples Alliance, die gegen
LGBT-Rechte kämpft.
## Und Boris Johnson?
Aber wenn man nicht nach der Parteipräferenz fragt, sondern wissen will,
was die Leute zu Boris Johnson zu sagen haben, ist das Bild nicht so
eindeutig. [2][Johnson sei mit seinen Fehlern einfach nur menschlich], sagt
der in Sudan geborene Coach und Physiotherapeut Mohammad Ali, 23. Wen er
nun wählen soll, wo „Boris“ nicht mehr zur Wahl steht, weiß er noch nicht.
„Es muss ein bescheidener Mensch sein“, findet er.
Vor dem Discount-Supermarkt „Iceland“ in West-Dreyton, einem etwas ärmeren
Teil des Wahlkreises, erzählt Lieferant Darril Allard, 53, dass er sich
ebenfalls noch nicht entschieden hätte. „Ich mochte Boris“, gesteht er.
Unter den Tories habe sich West-Dreyton über die Jahre verbessert und sehe
weniger heruntergekommen aus, glaubt Allard. „Ich bin mir nicht sicher, was
Labour besser machen könnte.“ In der Vergangenheit hatte er sowohl für den
konservativen Johnson als auch für Labour unter Tony Blair gewählt.
„Wichtig ist, dass Abgeordnete deine Anliegen verstehen“, sagt er.
Die Schwärme von Labourunterstützer:innen mit roten Wahlmaterialien
sollen vor allem solche Unentschiedene überreden. 17 Namen werden am
Donnerstag auf dem Wahlzettel stehen, das Antreten in Boris Johnsons altem
Wahlkreis garantiert mediale Aufmerksamkeit. Siegesaussichten haben nur
Beales für Labour und Tuckwell für die Konservativen. Die beiden betonen
ihre lokalen Wurzeln, etwa, dass sie im örtlichen Krankenhaus auf die Welt
kamen. Ein seit Langem überfälliger Neubau dieses Krankenhauses war bis vor
Kurzem eins der großen Themen hier, ebenso die Schließung der lokalen
Polizeiwache.
## Lokale Themen verschwunden
Tuckwell versucht außerdem, die von Londons Labour-Oberbürgermeister Sadiq
Khan geplante Erweiterung der Londoner Niedrigemissionszone (ULEZ) auf ganz
London zu thematisieren. Ab August soll sie auch in Uxbridge gelten, was
für ältere Autos eine Gebühr von 12,50 Pfund (etwa 14 Euro) pro Tag nach
sich zieht, um überhaupt fahren zu dürfen. Das ist in Londons Außenbezirken
äußerst unpopulär.
Es gibt hier sogar zwei unabhängige Kandidaten, die nur zur Bekämpfung der
ULEZ antreten. Doch Beales nahm dem Thema den Wind aus den Segeln, als er
erklärte, dass auch er dagegen sei, solange es keine ausreichende
Kompensation für ärmere Menschen gebe, die sich keine modernen
emissionsarmen Fahrzeuge leisten können.
Überhaupt sind im Wahlkampf viele der lokalen Themen ganz plötzlich
verschwunden. Plötzlich fand die konservative Regierung Geld für ein neues
Krankenhaus, plötzlich will Londons Labour-Regierung die Polizeiwache
wieder öffnen. Gemeinsam mit den Grünen und den
Liberaldemokrat:innen sind beide Hauptkandidaten außerdem gegen
eine geplante fünfte Startbahn auf dem nahen Londoner Riesenflughafen
Heathrow, wie es auch schon Boris Johnson gewesen war.
Dass Labour und Konservative dort, wo sie die Macht haben, direkt auf die
Wünsche dieses Wahlkreises eingehen, zeigt, welch hohen symbolischen
Stellenwert diese Nachwahl hat. Keiner will Fehler machen. Als die Brunel
University, die im Wahlkreis ihren Sitz hat, alle Kandidaten zu einer
zweiten Podiumsdiskussion einlädt, fehlen Tuckwell und Beales. War das
Risiko zu groß?
Tuckwell hat zumindest eine Ausrede, er hatte einen Termin in der
Stadtbehörde. So haben zwei Selbstdarsteller die Bühne: der
rechtspopulistische Schauspieler Lawrence Fox und der Corona- und
Klimawandelleugner Piers Corbyn, Bruder von Ex-Labourchef Jeremy Corbyn.
Beide haben Unterstützer:innen mitgebracht, die Veranstaltung wird
teilweise zu einer lauten Plattform von Verschwörungstheorien. Die beiden
großen Parteien bemühen sich nicht, dem entgegenzutreten.
Angetroffene Gruppen von [3][Labourunterstützer:innen bedauern immer
wieder nervös, dass sie nicht mit den Medien sprechen dürften].
Fotografieren sei aber gerade noch erlaubt. Eine Gruppe gesteht, dass sie
eben von einem ULEZ-Gegner angeschrien worden sei. Man versuche, positiv zu
bleiben.
Als vor dem U-Bahnhof Uxbridge ein Repräsentant der „Hindus for Labour“
beginnt, freundlich mit der taz zu sprechen, eilt nach nur zwei Minuten
eine Frau herbei, die sich als Wahlleiterin des Labour-Kandidaten ausgibt.
Sie drängt ihren Parteigenossen weg, sagt ihm etwas und erklärt dann der
taz, dass es niemanden gestattet sei, mit Medien zu sprechen. Unter der von
ihr ausgehändigten Handynummer eines Presseverantwortlichen hebt niemand
ab, stattdessen gibt es per Textnachricht die schlichte Antwort, man gebe
keine Interviews.
Diese Art des Pressemanagements ist bei Labour nicht neu, sie erinnert an
die Ära von Tony Blair. Kommt das nun, wo Labour sich erneut Hoffnungen auf
den Sieg bei den nächsten britischen Wahlen machen darf, zurück? Mit dem
von Labour verbreiteten Image von Danny Beales als nett, zugänglich und
verantwortungsbewusst scheint so etwas nicht vereinbar, es steht auch in
Dissonanz zu dem, was sich viele nach Boris Johnson für Großbritannien
wünschen: ehrliche und transparente Politik, die mit sich reden lässt.
19 Jul 2023
## LINKS
[1] /Britischer-Ex-Premier-Boris-Johnson/!5939698
[2] /Nach-Boris-Johnsons-Parlamentsruecktritt/!5937376
[3] /Britische-Labour-Partei-vor-Wahlen-2024/!5921595
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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