# taz.de -- Serie „Die nettesten Menschen der Welt“: Geister der Gegenwart | |
> „Die nettesten Menschen der Welt“ spiegelt den Horror einer intakten | |
> Gesellschaft. Die Serie ist eine gewagte Produktion der ARD. | |
Bild: Das Bewerbungsgespräch um die Stelle als „Moral Values Officer“ ende… | |
Zwei Frauen sind zum Bewerbungsgespräch eines Tech-Unternehmes geladen. Kay | |
(Stephanie Amarell) ist jung, hochintelligent, unerfahren. Petra (Silke | |
Bodenbender) ist rund 20 Jahre älter, hochgebildet und sehr erfahren. Sie | |
sitzen sich in einem [1][klinischen Raum] gegenüber und werden von einem | |
Mann (Fabian Hinrichs) begrüßt, der über einen Bildschirm zugeschaltet ist: | |
„Hey, willkommen bei Nutec, Food Science and Ethics. Ich bin Marco, Head of | |
Human Resources. Danke, dass du mit uns als Moral Values Officer eine Unit | |
führen und für Werte zuständig sein willst.“ | |
Als erste Aufgabe müssen die Frauen sagen, was ihnen aneinander gefällt. | |
Eloquent tragen sie Komplimente vor, doch ihre Gesichter offenbaren | |
Abneigung. Die Strategie der perfiden Befragung scheint aufzugehen: Die | |
professionelle Fassade der Frauen bröckelt, sie werden immer nervöser und | |
angriffslustiger. Als Kay merkt, dass ihr Mikrofon ein schrilles Fiepen bei | |
der Hörgerät tragenden Petra erzeugt, dreht sie die Lautstärke voll auf, | |
bis Petra vor Schmerzen kollabiert. | |
So weit, so weird. Doch das ist nur der Anfang. Nach einem Schnitt stellt | |
sich heraus: Es war [2][alles gefakt]. Petra ist eigentlich Leiterin des | |
Unternehmens und fragt Kay, warum sie um Hilfe gerufen habe, sie habe | |
gewirkt wie ein hilfloses Mädchen. Dass „Nutec“ möglichst skrupellose Leu… | |
sucht, ist spätestens am Ende der zweiten Folge der sechsteiligen | |
[3][ARD-Serie] „Die nettesten Menschen der Welt“ keine Überraschung mehr. | |
## Bewerbungsgespräch endet tödlich | |
Spoiler Alert: Kay wird das schlechte Abschneiden zum tödlichen Verhängnis. | |
Warum, bleibt genauso offen wie die Gründe für die Schicksale in den | |
anderen Episoden: etwa das des Studenten Ben (Liam Mockridge), der seinem | |
Mitbewohner Marten (Anton von Lucke) dessen Freundin Anne (Lena Klenke) | |
ausspannt und von einem Monster heimgesucht wird. | |
Überhaupt bleibt vieles vage in der neuen Serie von Alexander Adolph, der | |
sonst regelmäßig bei „Tatort“ Regie führt und hier zusammen mit Eva Wehr… | |
das vor absurden Dialogen strotzende Drehbuch geschrieben hat. | |
Gerade das Vage macht die Serie so erfrischend. Sie vermengt Elemente aus | |
Horror, Fantasy und Science-Fiction und macht sich dabei zwei grundlegende | |
Aspekte einer zeitgemäßen Horrorstory zu eigen. Erstens geht es kaum um den | |
Schrecken von Außen in Form von Monstern oder Zombies, sondern um den | |
Schrecken von Innen. Er bleibt zunächst verborgen und bricht bisweilen | |
schockartig durch die dünne Wand der vermeintlich idyllischen Normalität. | |
Zweitens ist nie klar, wer oder was hier das, der oder die Böse oder Gute | |
ist. | |
## Schock und Ambivalenz | |
Ästhetisch getragen wird die Serie vom tollen Cast, dem es gelingt, selbst | |
bei den boshaftesten Handlungen wie Unschuldslämmer zu wirken, und von der | |
eigenwilligen Bild- und Tonsprache. Während die Kamera mal aus Sicht einer | |
Katze filmt, macht der Soundtrack oft das Gegenteil von dem, was deutsche | |
Serien sonst gerne machen. Er verdoppelt die Bildebene nicht, er | |
konterkariert sie. So manch spannende Szene wird, wie in der Doppelfolge | |
„Elmchen“, mit gehauchtem Gitarrenzupfen unterlegt statt mit üblichem | |
Archiv-Gedröhne. | |
So viel Lust an Genre-Konvention, Schock und Ambivalenz ist selten im | |
Öffentlich-Rechtlichen, das so gerne auf eindeutiges, möglichst genrefernes | |
Erzählen setzt. Gilt Letzteres doch immer noch oft als kulturell wertlos. | |
Dabei steckt gerade darin oft viel Potenzial, insbesondere für alle, die | |
künstlerischen Produkten gerne „politische Bedeutung“ zuweisen. | |
Ohne sie darauf zu reduzieren, ließe sich die Serie als Kritik auf eine | |
Gesellschaft lesen, die aktuell wieder ziemlich gut darin ist, das | |
Schreckliche zu verdrängen oder zu ignorieren. Es ist nicht wie „BRD Noir“, | |
wie der Autor Frank Witzel einst Literatur und Filme aus den 60er- und 70er | |
Jahren nannte, in denen sich die Geister des Faschismus hinter der Kulisse | |
der wiederaufgebauten Kultur versteckten. Es ist eher „BRD Grau“. Die | |
Geister sind nicht immer einfach nur böse und sie kommen nicht aus der | |
Vergangenheit, sie kommen aus dem Jetzt. Das Projekt Gesellschaft ist hier | |
auf gruselige Weise intakt – nicht trotz, sondern wegen der mörderischen | |
Machenschaften, die verborgen bleiben. | |
23 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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