# taz.de -- Europas Umgang mit Menschenrechten: Der verlorene Kompass | |
> Ich bin nach Europa geflohen, weil Europa für Menschenrechte steht. Aber | |
> das stimmt nicht mehr, denn Europa lässt Geflüchtete an seinen Grenzen | |
> sterben. | |
Bild: Längst zur Regel geworden: Ertrunkener Migranten am Strand in der Nähe … | |
Vor einem Jahr hat mein Bruder mir diese Geschichte als Witz erzählt: Ein | |
junger Syrer erzählt seinen Freunden, dass er nach Europa gehen möchte und | |
nicht länger hierbleiben will. Er sagt, dass das Leben in Europa für | |
syrische Geflüchtete schöner und besser ist. Seine Freunde lachen über | |
diese dumme Aussage und sagen, dass er nicht bemerkt hat, dass er bereits | |
in Europa ist – sie alle leben in Deutschland. | |
Seitdem denke ich über diese Geschichte nach und mehr und mehr verstehe | |
ich, dass sie die Realität widerspiegelt, in der auch ich lebe. Ich lebe | |
auch nicht in dem Europa, das ich aus Erzählungen kenne. Das heutige | |
[1][Europa] hat so viel von dem verloren, was es ausgemacht hat. | |
Das sind vor allem die [2][Menschenrechte], die nach einer langen | |
Geschichte von Krieg, Kolonialismus, Faschismus sowie dem Plündern anderer | |
Kulturen in Europa entstanden sind. Nach den größten Massakern gegen | |
Menschen und Religionen galten diese Menschenrechte als Wegweiser. Die | |
Menschenrechte wurden ausgebaut und weiterentwickelt und dienten dann auch | |
als Grundlage für die [3][Europäische Union]. Die Europäer durften auch als | |
Propheten und Beschützer der Menschenrechte im Rest der Welt auftreten, | |
denn bei sich hatten sie sie ja schon. | |
So habe ich die Geschichte jedenfalls gelernt, als Syrer. Meine Generation | |
hat gelernt, dass Europa aus seiner langen Geschichte Lehren gezogen hat | |
und dass wir in der arabischen Welt das auch machen sollten. Besonders nach | |
dem Kalten Krieg, als der [4][amerikanische Imperialismus] langsam auch bei | |
uns ankam, und nachdem wir alle die Hoffnung auf [5][Kommunismus], | |
[6][Sozialismus] und linke Ideen verloren hatten. | |
Ich bin aufgewachsen mit dem Wissen, dass der Sozialismus, der aus der | |
ehemaligen Sowjetunion nach Syrien importiert wurde, als Wunschlösung | |
gegen den Kolonialismus galt. Erst später wurde auch der älteren Generation | |
klar, dass der Sozialismus bei uns nur diktatorische Regime gefördert hat. | |
Regime, die nicht nur gegen die europäischen Menschenrechte sind, sondern | |
einfach gegen die Menschen. | |
Also galt die neue Hoffnung der Demokratie und den europäischen Werten. | |
Viele Syrer*innen meiner Generation sehen nicht die USA als großen | |
Bruder, nicht so wie viele Deutsche aus der Nachkriegsgeneration. Wir haben | |
nicht diese Erfahrung, dass die USA uns befreit hat und uns auf dem Weg in | |
eine stabile Demokratie unterstützt haben. Wir sehen die USA eher als | |
imperialistisches Land. Das liegt zum Teil an Regierungspropaganda, und zum | |
Teil an der tiefen Wunde, die der [7][Irakkrieg] in der arabischen Welt | |
gelassen hat. | |
Heute denke ich darüber nach, wie das Europa, das ich mir früher in Syrien | |
vorgestellt habe, sich von dem Europa unterscheidet, was ich tatsächlich | |
kennengelernt habe. Ich habe keinen Weltkrieg und keine Katastrophen wie im | |
20. Jahrhundert erlebt. Aber wir alle sehen dabei zu, wie täglich viele | |
kleinere Katastrophen an den Grenzen von Europa geschehen. | |
Vielleicht wirken sie kleiner, weil sie leiser passieren. Menschen | |
ertrinken auf ihrer Flucht nach Europa, ohne dass Europa ihre Namen oder | |
ihre Geschichten kennt. Und auch die Menschen wie ich, die es nach Europa | |
geschafft haben, kennen die Namen derer nicht, die nach uns kamen und es | |
nicht überlebt haben. Ich frage mich, ob es etwas gibt, was wir tun können, | |
damit das heutige Europa wieder in seine Rolle als Beschützer aller | |
Menschenrechte findet. | |
18 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Hussam Al Zaher | |
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