Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neue Regierung in Finnland: Minister für zehn Tage
> Wegen seiner Verbindungen zur Neonazi-Szene muss Wirtschaftsminister
> Junnila gehen. Die „Wahren Finnen“ sprechen von einer Schmutzkampagne.
Bild: Ex-Wirtschaftsminister Vilhelm Junnila von den „Wahren Finnen“
Stockholm taz | Finnlands Rechtsregierung hat einen neuen Rekord
aufgestellt. Schon nach 10 Tagen verlor sie am Freitag ihr erstes
Kabinettsmitglied. Der der Partei der Wahren Finnen angehörende
Wirtschaftsminister Vilhelm Junnila musste seinen Hut nehmen. Seine
Stellung war unhaltbar geworden, nachdem es eine breite öffentliche Debatte
über Details seiner schon länger bekannten Verbindungen in die
Neonazi-Szene gegeben hatte.
So beispielsweise ein Auftritt, den er 2019 als Hauptredner bei einer
Veranstaltung hatte, die Medien als Treffen der „Who's who finnischer
Neonazis“ einstuften. Und bei dem von einer Nachfolgeorganisation der
„[1][Soldiers of Odin]“ bis zu der ein Jahr später verbotenen „Nordischen
Widerstandsbewegung“ die gewaltbereitesten Neonazi-Gangs Finnlands
vertreten waren. Auf Medienfragen versuchte sich Junnila damit
herauszureden, dass ihm die teilnehmenden Organisationen im einzelnen gar
nicht bekannt gewesen seien.
Was allerdings ebenso wenig glaubwürdig war wie sein Versuch,
antisemitische Äußerungen und die Verwendung von Nazi-Codes und -Symbolen
in sozialen Medien und in seinen Wahlkampagnen mit einer „zeitweisen
Neigung zu dummen Scherzen“ zu erklären. Solche Art „Humor“ sei tatsäch…
eine übliche Praxis der extremen Rechten, um ihre Botschaften zu
verbreiten, sich aber gleichzeitig zur Not wieder mit „Gar-nicht-so
gemeint“ oder „war nur Spaß“ davon distanzieren zu können, analysierte …
Kulturwissenschaftler Riku Löf.
## „Gas Geben“-Plakat und geschönter Lebenslauf
Ganz typisch sei beispielsweise Junnilas „Gas“-Kampagne gewesen. Den Slogan
„Gas! Vilhelm Junnila“ hatte der bei seiner persönlichen Wahlkampagne
verwendet. Was bislang nur in Internetforen diskutiert wurde, fand nun auch
den Weg in Tageszeitungen wie Helsingin Sanomat: Hatte er sich da vom „Gas
Geben“ auf NPD-Wahlplakaten inspirieren lassen, die vor einigen Jahren in
Deutschland große Empörung ausgelöst hatten? „Wenn wir nicht aufpassen,
verschiebt sich das immer mehr in eine extreme Richtung“, warnt Löf: „Was
bisher bei einem Politiker nicht akzeptabel war, gilt irgendwann als
normal.“
Beim Wirtschaftsminister gab es noch mehr zu entdecken. Offenbar hat er
seinen Lebenslauf „geschönt“ und ein behauptetes Studium nie absolviert.
Und da war sein Vorschlag, den Klimawandel mit „der Förderung von
Klimaabtreibungen“ bei afrikanischen Frauen einzudämmen. Damit könne man
der wahren Ursache der Erderwärmung begegnen, der „Überbevölkerung“. Sog…
dem ansonsten bei der Kommentierung innenpolitischer Vorgänge recht
zurückhaltendem Staatspräsidenten Sauli Niinistö platzte angesichts solch
offenem Faschismus der Kragen: „Das ist gelinde gesagt sehr peinlich für
die Regierung. Gelinde gesagt.“
## Misstrauensvotum der Grünen
Die Grünen-Fraktion entschloss sich, gegen Junnila ein Misstrauensvotum im
Reichstag zu beantragen. Dem schlossen sich binnen weniger Stunden alle
anderen Oppositionsparteien an. Bei der Abstimmung am Mittwoch hielten 86
Reichstagsabgeordnete Junnila als Minister für untragbar, 95 sprachen ihm
das Vertrauen aus. Ein Abstimmungserfolg für ihn, der aber keiner war: Die
Regierung hat nämlich eine Parlamentsmehrheit von 109 Mandaten.
Offenbar lag dem Ergebnis ein taktisches Abstimmungsverhalten zugrunde.
[2][Riikka Purra], die Vorsitzende der Wahren Finnen, hatte die
Koalitionsparteien vor der Abstimmung erpresst: Sollte das Misstrauensvotum
Erfolg haben, würde das gleichzeitig automatisch das Ende der Koalition
bedeuten. Was die Fraktionen der anderen drei Regierungsparteien vermeiden
wollten. Auffallend viele Abgeordnete fehlten dann plötzlich bei der
Abstimmung und bei der Schwedischen Volkspartei wurde festgelegt, wie viele
ParlamentarierInnen Junnila das Misstrauen aussprechen dürfen und wer sich
nur der Stimme enthalten sollte.
Damit verlor Junnila die Abstimmung zwar nicht und Purra musste ihre
Drohung nicht wahr machen. Aber das Signal war unmissverständlich: Zum
ersten Mal in der finnischen Parlamentsgeschichte sprachen Abgeordnete von
Regierungsparteien einem Kabinettsmitglied offiziell das Misstrauen aus.
[3][Ministerpräsident Petteri Orpo] machte außerdem klar, dass mit diesem
Votum der Fall Junnila nicht erledigt ist. Er habe ein „sehr ernstes
Gespräch“ mit seinem Wirtschaftsminister geführt, teilte er mit und
kündigte für kommende Woche ein Treffen der Regierung an, bei dem ein
Tagesordnungspunkt die rechtsextremen Kontakte Junnilas sein sollten.
## Die „Wahren Finnen“ sprechen von Schmutzkampagne
Dazu kam es nicht mehr, weil der am Freitag die nach Orpos Worten „einzig
mögliche Konsequenz zog und den richtigen Beschluss fasste“. Vermutlich
hatte ihm auch seine Parteivorsitzende geraten seinen Rücktritt zu
erklären, denn auch die Wahren Finnen konnten kein wirkliches Interesse
daran haben, die Koalition nach weniger als 2 Wochen schon wieder platzen
zu lassen. Purra lobte jedenfalls, Junnila habe „das Rückgrat gezeigt, das
ich von ihm kenne“ und er habe „weder Finnland noch der Bewegung der Wahren
Finnen schaden wollen“.
Gleichzeitig beklagte sie aber den gesamten Vorgang als Ergebnis einer
gezielten Schmutzkampagne gegen ihre Partei. „Gewisse Kreise“ seien schon
dabei, sich auf ein weiteres Kabinettsmitglied einzuschießen:
„Innenministerin Rantanen soll anscheinend das nächste Ziel sein.“ Und
Purra warnte schon einmal angesichts möglicher neuer Misstrauensvoten:
„Entweder ist das eine Regierung, die geschlossen auftritt oder eine, die
es dann nicht mehr geben wird.“
Mari Rantanen könnte tatsächlich ein nächstes Misstrauensvotum gelten. Von
ihr stammen Äußerungen, die laut dem Ideenhistoriker Olav Melin auf „im
höchsten Grade rassenbiologisches Denken“ schließen lassen. Außerdem wird
sie kritisiert, weil sie noch im März Tweets unter dem Hashtag
„Bevölkerungsaustausch“ verbreitete. Eine Verschwörungsideologie mit der
beispielsweise auch der Rechtsterrorist und Massenmörder [4][Anders
Breivik] seine Taten zu rechtfertigen versuchte und die vom finnischen
Verfassungsschutz „als eine der wichtigsten ideologischen Triebkräfte des
Rechtsterrorismus“ eingestuft wird.
Kommt dieses Thema auf den Tisch, könnte es abgesehen von der
Innenministerin gleich für mehrere Ministerinnen der Wahren Finnen eng
werden. Die Vokabel scheint nämlich auch zum regelmäßigen Sprachgebrauch
von Justizministerin Leena Meri und von Purra selbst, der
Parteivorsitzenden und Finanzministerin, gehört zu haben.
Mit Junnilas Abgang dürfte die Regierungskrise nicht gelöst sein, sondern
könnte nach der parlamentarischen Sommerpause erst so richtig in Gang
kommen. Er erwarte jetzt eine größere Debatte über die Zukunft dieser
Regierungszusammenarbeit, sagt Tapio Raunio, Staatswissenschaftsprofessor
an der Universität Tampere: „Für mich wäre es ein Wunder, wenn diese
Regierung eine ganze Legislaturperiode durchhält.“
2 Jul 2023
## LINKS
[1] /Nazis-verpisst-Euch-in-Finnland/!5307350
[2] /Finnlands-Rechte-vor-dem-Mitregieren/!5941380
[3] /Finnland-hat-einen-neuen-Ministerpraesidenten/!5942321
[4] /Utya-Attentaeter-vor-Gericht/!5828748
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
Petteri Orpo
Finnland
Skandinavien
Rechtsextremismus
Petteri Orpo
Finnland
Petteri Orpo
## ARTIKEL ZUM THEMA
Finnlands Wirtschaftsminister gefeuert: Zehn Tage zu viel
Wenn Finnlands Regierungschef Petteri Orpo sich um den Ruf des Landes
sorgt, sollte er die Koalition mit den Wahren Finnen sofort beenden.
Finnland hat einen neuen Ministerpräsidenten: Rechtsschwenk mit Frauenmehrheit
Petteri Orpo ist offiziell Sanna Marins Nachfolger als Regierungschef
Finnlands. In seinem Kabinett gibt es nun 13 Frauen und 9 Männer.
Finnlands Rechte vor dem Mitregieren: Chefin der Wahren Finnen am Ziel
Mit Riikka Purra erzielte Finnlands Rechtsaußenpartei das beste Ergebnis
ihrer Geschichte. Sie dürfte jetzt Finanzministerin werden.
Finnlands neue Regierung: Das nordische Muster
Die Rechtspopulisten werden künftig die finnische Politik dominieren. Das
Tor dazu haben ihnen die anderen Regierungsparteien selbst geöffnet.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.