# taz.de -- Renaissance-Oper am Theater Bremen: Triumph der Liebe | |
> Starregisseurin Tatjana Gürbaca bringt in Bremen Claudio Monteverdis | |
> "Poppea" heraus. Im Fokus steht dabei der Zynismus des Werks. | |
Bild: Da hinten zuckt noch jemand: Aber sobald Nero Poppe gekrönt hat, wird da… | |
Seneca ist völlig neben der Spur. Bassist Christoph Heinrich torkelt in der | |
Rolle des Philosophen und einstigen Erziehers des jetzigen Caesaren | |
[1][Nero] barfuß über die Bühne des Theaters am Goetheplatz, die hier als | |
abstrakt-zeitloser, aber stark pornokratischer römischer Kaiserhof | |
fungiert. Hatte er etwa gesoffen? | |
Ständig [2][stänkert er rum], dass Nero gefälligst nicht mit der sexy | |
Poppea rummachen soll. Schließlich verdankt er doch – aus Constanze Jaders | |
jenseitigem Alt wehen Würde und Moder der gesamten Geschichte Roms – seine | |
Karriere, also seinen Thron, der Zweckheirat mit der Kaisertochter Octavia | |
Immer wieder blökt Seneca mitten in die schönste italienische | |
Renaissance-Musik enigmatische deutsche Verse von Heiner Müller oder so, um | |
dann zurück in den Gesang zu switchen. Dabei lotet Heinrich die | |
Intonationsspielräume mitunter so sehr aus, dass es richtig falsch klingt – | |
wenigstens für durch eine diatonisch-harmonische Musikdoktrin gedrilltere | |
Ohren als die des frühen 17. Jahrhunderts. | |
Ein guter Viertelton daneben! Verunsichernd. Soll das so? Oder hätte der | |
sonst so akkurate Sänger ausgerechnet bei der Premiere von Claudio | |
Monteverdis „L’Incoronazione di Poppea“ einen rabenschwarzen Tag erwischt? | |
Na, wohl eher nicht. Denn so etwas merkt ein erfahrener Sänger und er würde | |
dann den Intendanten vor der Aufführung ein paar Worte der Entschuldigung | |
stottern lassen. Eher ist es so, dass Tatjana Gürbaca, längst zur | |
Starregisseurin avanciert, mit kühnem Griff und Freude an unkonventionellen | |
Besetzungen – Aralta, Poppeas Amme, muss Tenor Christian-Andreas Engelhardt | |
im Falsett singen – die letzte Oper des ersten Opernkomponisten mutig | |
teilentopert. | |
Dafür nimmt sie auch musikalische Verluste in Kauf, ja verleiht ihnen einen | |
Aussagewert: Dieses Werk wirft wie wenige die Frage nach der fehlenden | |
Identität auf, nach dem Verlust jedes Zusammenhangs von moralisch Gutem, | |
epistemologisch Wahrem und sinnlich Schönem. Dieser tritt fast brutal | |
deutlich zutage, indem der Dreiakter, wie hier geschehen, seiner | |
zahlreichen Längen beraubt, auf ein zweiteiliges Musiktheaterstück | |
skelettiert wird. | |
Das trotzdem Raum lässt für ein paar brillante Auftritte und sogar ein paar | |
richtige Arien: Mitreißend singen darf die junge Sopranistin Elisa | |
Birkenheier als Drusilla. Gleiches gilt für Countertenor Dmitry Egorow, der | |
ihren geliebten Ottone spielt – und, um den Verdacht auf sie zu lenken, in | |
ihrem Kostüm einen Mordanschlag auf Neros Gespielin Poppea verübt, der | |
kläglich scheitert. | |
Niemand aber übertrifft den verführerisch klaren Sopran Marie Smolkas in | |
der Titelrolle oder gar Mezzosopranisitin Ulrike Mayer als Nero: Mal | |
fiebrig getrieben, mal von schneidender Intelligenz und von herablassender | |
Freude an der Qual, die er bereitet, verleiht sie diesem Erzbösen eine | |
beinahe schon unangenehme, definitiv aber unheimliche Präsenz: Es ist ein | |
dunkles Strahlen, das von diesem Nero ausgeht. | |
Diese zwei, das ist die Handlung, die Gürbacas Spielfassung übrig lässt, | |
schicken alle Personen, die an ihrer Verbindung zweifeln, die versuchen, | |
sich ihr in den Weg zu stellen, oder die so etwas möglicherweise in Zukunft | |
tun könnten – also: Sie schicken alle Personen außer sich selbst in den Tod | |
oder – eine fantastische Szene! – erdrosseln sie eigenhändig und | |
einträchtig mithilfe einer Nylonstrumpfhose. | |
## Das Schönste ist, sich zu lieben | |
Und danach, das ist die Schlussszene, singen sie „Pur ti miro, pur ti | |
gordo“, also so in Richtung: Ich weide mich an dir, ich schau dich an, ich | |
ergehe mich an dir. Währenddessen steigen die Leichen in gediegener | |
Geister-Prozession, eine nach der anderen, in die Zinkwanne, in der sich | |
zum Schluss von Teil eins Seneca die Adern aufgeschnitten hatte. Eine | |
Bluttaufe. | |
Dieses Liebeslied aber ist [3][das wohl unwiderstehlichste Duett, das die | |
Musikgeschichte kennt]: „Ich bin dein / und dein bin ich“: Niemand kann sie | |
aufhalten. Alle sind gestorben. Nur diese Monster nicht. Ihre Liebe | |
triumphiert. Was könnte schöner sein? | |
20 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ausstellung-in-Trier/!5304366 | |
[2] https://www.gottwein.de/Lat/seneca00.php | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=_isL0E-4TsQ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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