# taz.de -- Brandbrief des Kindernotdienstes: Katastrophe mit Ansage | |
> Der Jugendstaatssekretär besucht den Berliner Kindernotdienst. Zuvor | |
> hatten Mitarbeitende einen Brandbrief wegen schlechten Arbeitsbedingungen | |
> geschrieben. | |
Bild: Mit Anzug zum Krisengespräch: Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) v… | |
BERLIN taz | Am Donnerstagmorgen steigt Falko Liecke (CDU), Staatssekretär | |
für Jugend, aus seinem Sportwagen, der auf dem Radstreifen vor dem | |
Kindernotdienst hält. Liecke geht auf das Gebäude des Kindernotdiensts in | |
der Gitschiner Straße zu. „Solidarität mit dem KND“, ruft ihm eine kleine | |
Gruppe entgegen, die sich vor dem Eingang versammelt hat. Die AG Weiße | |
Fahnen hatte zu einer Mahnwache aufgerufen. | |
Der Staatssekretär ist vor Ort, weil er mit den Mitarbeiter*innen der | |
Aufnahmestelle über die Situation im Kindernotdienst sprechen möchte. Die | |
hatten sich in der vergangenen Woche mit einem Brandbrief an den | |
Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und die Jugendsenatorin | |
Katharina Günther-Wünsch (CDU) gewandt, weil sie die Arbeit für sich und | |
die Kinder im Notdienst als „untragbar“ empfinden. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass Mitarbeiter*innen aus dem | |
Kindernotdienst selbst um Hilfe rufen ([1][taz berichtete]), aber dieses | |
Mal steht die ganze Einrichtung dahinter. | |
Eigentlich hilft der Berliner Kindernotdienst (KND) Kindern, die etwa wegen | |
Gewalt von zu Hause wegmüssen. Doch seit Jahren beklagen die | |
Mitarbeiter*innen gegenüber der verantwortlichen Senatsverwaltung für | |
Familie ihre eigene Notlage. „Gegenwärtig kann der Kindernotdienst seine | |
Aufgabe nicht mehr erfüllen“, schreiben die Mitarbeiter*innen in dem | |
Brandbrief. | |
## Mehr als 1.000 Überstunden | |
Die Mitarbeitenden fassen hier die Probleme zusammen, die für sie eine | |
„Katastrophe mit Ansage“ sind. Der Personalmangel führe zu „Krankheit, | |
Rückzug, Selbstschutz und Resignation“. Seit Anfang März seien über 1.000 | |
Überstunden allein im Betreuungsbereich angefallen. | |
Der Kindernotdienst habe außerdem zunehmend mit Kindern zu tun, die | |
„besondere Hilfebedarfe“ aufweisen. Diese Kinder richten häufig Gewalt | |
gegen sich und andere und müssten psychiatrisch betreut werden. Eine | |
Aufnahme dieser Kinder sei Aufgabe des KND. | |
„Dies kann aber nicht bedeuten, dass ein Kindernotdienst mit zehn Betten | |
dauerhaft für die Psychiatrie herhalten muss“, heißt es im Brandbrief. Da | |
diese Kinder viel Zuwendung brauchen, können andere Kinder, die etwa Gewalt | |
erlebt haben oder durch „Unfall, Krankheit, Suizid oder Feminizid ihrer | |
Eltern verloren haben“, nicht betreut werden. | |
Staatssekretär Liecke hatte im RBB eine Woche vor seinem Besuch im KND die | |
Situation anders eingeschätzt. Der Brandbrief sei zum Teil „sachlich | |
falsch“ sagte er dort. Er kritisiert, dass in dem Schreiben ein tödlicher | |
Fall in Freudenberg im März dieses Jahres in Verbindung mit der Situation | |
im Kindernotdienst gebracht wird. | |
Dort war ein Mädchen mit über 70 Messerstichen getötet worden – die | |
mutmaßlichen Täterinnen sind 12 und 13 Jahre alt. „Dass so etwas im Rahmen | |
des Kindernotdienstes geschieht, ist völlig abstrus“, sagt Liecke in der | |
„Abendschau“. Auch seien insgesamt 45 Personen im Kindernotdienst für | |
maximal 10 Plätze zuständig. Dementsprechend sieht er die | |
Betreuungssituation als gedeckt an. | |
## Gesprächsbereitschaft reicht nicht | |
Es sei ein gutes Zeichen, dass Liecke sich jetzt gesprächsbereit zeige, ist | |
der Konsens auf der Kundgebung vor dem Kindernotdienst. „Wenn er wirklich | |
verstehen will, wie es uns in der Jugendhilfe geht, soll er mal eine Woche | |
mitarbeiten“, fügt Teilnehmerin der Kundgebung hinzu. | |
Fabian Schmidt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagt: | |
„Wir stolpern von der einen in die nächste Krise“, sagt er. „Und am Ende | |
machen wir Sozialarbeiter*innen das alles noch mit.“ | |
In dem 3,5-stündigen Gespräch sei entschieden worden, dass die | |
Beratungsstelle des Kindernotdienstes vorübergehend mit der Beratungsstelle | |
im Jugendnotdienst zusammengelegt werden soll, sagt die Senatsverwaltung. | |
Außerdem soll eine zweite Aufnahmestelle geschaffen werden. | |
Offen sei jedoch geblieben, wie diese Maßnahmen überhaupt umgesetzt werden | |
sollen, heißt es aus dem Kindernotdienst. Das Team des Kinder- und | |
Jugendnotdienstes zeigt sich nach dem Gespräch mit Liecke resigniert. | |
„Völlig abstrus“ empfindet ein Mitarbeiter die gefundenen Vereinbarungen. | |
Da hätten sich auch die Protestierenden vor dem Gebäude der Gitschiner | |
Straße mehr erwartet, die während des Gesprächs mit Ratschen und einem | |
Banner vor dem KND ausharrten. | |
16 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Leclere | |
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