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# taz.de -- Kinder- und Jugendhilfe in Berlin: Keine sorgende Zukunft mit Liecke
> Die Kinder- und Jugendhilfe braucht mehr Personal und mehr Geld. Mit
> Berlins Jugendstaatsekretär Falko Liecke (CDU) wird das nichts werden.
Bild: Falko Liecke beim Kleinen Landesparteitag der CDU Berlin im Juni 2022
Dienstagmorgen war kurz alles gut. Die AG Weiße Fahnen hatte zum ersten
„[1][Kinder- und Jugendhilfegipfel]“ vor das Rote Rathaus gerufen. Es
schien, als habe sich das neue Leben in den Herbstmorgen geschlichen, mit
Gesprächen über eine gemeinsame Zukunft, einem eindeutigen politischen
Ziel.
Sozialarbeitende, Erzieher:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Fachkräfte
waren gekommen, um in Arbeitsgruppen die Personalnot, den Zeitmangel, die
überbordende Bürokratie und die Geldprobleme in der Jugendhilfe zu
adressieren. Auch Jugendliche waren da, die momentan in Berlin in
Wohngruppen und stationären Einrichtungen leben. Auf der Bühne forderten
sie mehr Taschengeld, mehr Ausflugsgeld, mehr Personal. Es gab auch einen
Plan, wie das umgesetzt werden kann: Weniger Geld für Waffen und weniger
Geld für Politiker:innen.
Im liberalen Kapitalismus sind die am lautesten, die in Sprache, Wirtschaft
und Investitionen erfolgreich sind. Oft kommen sie aus mittelständigen bis
reichen Elternhäusern, wo genug verdient wird, um den Kindern während des
Studiums in der Großstadt ihre Wohnung inklusive Balkonpflanzen und
Bettkästen zu bezahlen.
Solche traditionellen Verhältnisse sind rar in der Jugendhilfe. Es sei
denn, man wächst bei einer Pflegefamilie auf. Doch auch hier verändert der
Wandel der Familiensysteme zeitliche und emotionale Kapazitäten, immer
weniger Menschen nehmen Pflegekinder auf. Mehr junge Menschen leben in
stationären Einrichtungen. Mit ihnen wurden 2019 über eine Million Kinder,
Jugendliche und junge Volljährige von Angeboten der „Hilfen zur Erziehung“
betreut.
## Familienpolitik wird für die Mittelschicht gemacht
Die Jugendhilfe ist mit Klassenfragen verknüpft, die wiederum durch
kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse erzeugt werden, in denen
Niedriglöhne rechtlich unterfüttert und Care-Arbeit entwertet wird.
Unterdessen wird Familienpolitik für die Mittelschicht gemacht, wo Menschen
die Zeit und Ressourcen haben, Anträge auszufüllen, ohne sich das
Zahnfleisch abzutragen.
Diese Verhältnisse zeigen sich auch in den Statistiken. Im Jahr 2019 haben
43,9 Prozent Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen und 55,4
Prozent der Kinder in Pflegefamilien zuvor mit einem alleinerziehenden
Elternteil gelebt. In Deutschland gelten 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien
[2][als einkommensarm], davon sind 88 Prozent Mütter. Alleinerziehende
Eltern müssen ihre Arbeitskraft in Lohnverhältnissen verkaufen, während sie
wichtige Care-Arbeit leisten.
Ob Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU), dem die Ergebnisse des Gipfels
kurze Zeit später übergeben werden, das bekannt ist, wissen wir nicht.
Weniger Geld für Politiker:innen, das immerhin gab er zu Protokoll,
ist für ihn „keine ernsthafte Debatte“. An dieser Stelle platzt der Traum
von der Mitsprache.
Als Staatssekretär erhält Liecke für seine Arbeit rund 11.720 Euro im
Monat. Das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen von
alleinerziehenden Müttern lag im Jahr 2017 bei 1.873 Euro. Junge Menschen,
die mit 18, 19 oder 23 Jahren noch Angebote der Jugendhilfe wahrnahmen und
eigenes Einkommen hatten, mussten bisher 75 Prozent an die Jugendhilfe
abgeben.
## Die Armut setzt sich weiter fort
Zwar wurde die sogenannte Kostenheranziehung dieses Jahr abgeschafft.
Trotzdem starten viele junge Menschen ohne Geld in ihr Erwachsenenleben.
Wozu Stauraum in Bettkästen, wenn man eh nichts drin zu verstauen hat. Papa
anrufen, wenn der Vermieter eine Kaution will, wenn die Semestergebühr
ansteht, die knappe Ausbildungsvergütung vor Monatsende das Konto gepfändet
hat: Das alles ist nicht drin.
Schon während der Zeit in der Jugendhilfe ist das Leben der jungen Menschen
von Anträgen für finanzielle Weitergewährung der Hilfen, Maßnahmen zur
Erziehung und Zielformulierungen bestimmt. Investitionen in
Jugendsozialarbeit sind dabei großartig, Freizeit mit Ausflügen, Bildungs-
und Gruppenangeboten wird helfen, die multiplen Krisen dieser Zeit zu
überstehen.
Aber: Wenn keine finanziellen Perspektiven für junge, durch ihre familiären
Verhältnisse arme Menschen geschaffen werden, etwa durch einen
Rechtsstatus, der ihnen schnell und unbürokratisch hilft, vom Sozialsystem
unabhängig zu werden, setzt sich die Armut weiter fort. Damit gehen
Stresskrankheiten, potenzielle Arbeitslosigkeit, erneute Überforderung Hand
in Hand. Diese Symptome wiederum aufzufangen, kostet den Staat bereits
heute Milliarden.
Das Problem ist: Falko Liecke sieht den Zusammenhang zwischen einer
liberalen Politik und der prekären Situation von Kindern und Jugendlichen
in der Jugendhilfe nicht. Finanzkapitalismus und administrative und
strafende Eingriffe durch den Staat schließen die Betroffenen aus, sie
sprechen ihnen ihre Menschlichkeit ab und weisen ihnen durch behördliche
Eingriffe ihren Platz in der Gesellschaft zu.
## „Wir“ und „Die“?
Die Markierung von Menschen als Andere ist Teil einer rassistischen
Denktradition. [3][Seine diesbezügliche Haltung zeigte Liecke] erst dieses
Jahr im Zuge der Silvesternacht in Berlin. Er zog immer wieder Grenzen
zwischen Menschen mit den Worten „Wir“ und „Die“. Auf Facebook schrieb
Liecke: „Die meisten Täter waren nie ein Teil von uns. (…) Sie haben und
wollten nie den Weg in die Mehrheitsgesellschaft finden.“
Weit entfernt von Liecke finden sich sensible Armutsforscher:innen und
Kinderrechtsaktivist:innen wie Christoph Butterwegge oder Mareice
Kaiser, die sich mit Menschen in prekären Lebenslagen solidarisieren,
anstatt sie, wie Liecke es getan hat, aufzufordern, ihren Kleidungsstil zu
ändern oder mit „pseudoreligiösen archaischen Riten und Gebräuchen“
aufzuhören.
Ein Staatssekretär, der sich mit seinen Thesen in die Nachbarschaft von
AfD-Trollen wie Björn Höcke oder SPD-Abstellgleislern wie Thilo Sarrazin
gestellt hat, die Differenzen politisch aufladen und die Kinder- und
Jugendhilfe hauptsächlich erwähnen, um mit ihr gegen „Intensivstraftäter“
oder „radikale Muslime“ Stimmung zu machen, wird die Berliner Kinder- und
Jugendhilfe nicht in eine gemeinschaftliche und sorgende Zukunft führen.
Ein Steuersystem, das Geld gerechter verteilt, eine ehrliche Einordnung der
eigenen Privilegien, ein Zuwachs am Engagement aller, die Bereitschaft
abzugeben, sehr wohl.
14 Oct 2023
## LINKS
[1] /Kinder--und-Jugendhilfe-in-Berlin/!5962411
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[3] /Neuer-Jugendstaatssekretaer-Falko-Liecke/!5924544
## AUTOREN
Anna Kücking
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