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# taz.de -- Berliner Kindernotdienst: System gesprengt
> Zu viele Kinder und zu wenig Personal belasten die Mitarbeitenden des
> Kindernotdienstes in Berlin. Sie haben deshalb Gefahrenanzeigen gestellt.
Bild: Rund um die Uhr erreichbar, rund um die Uhr überlastet: Der Berliner Kin…
BERLIN taz | Eigentlich hilft der [1][Berliner Kindernotdienst (KND)]
Kindern, die kurzfristig von zu Hause wegmüssen. Etwa wegen Gewalt. Jetzt
ist der KND selbst in einer Notlage. Personalmangel und immer mehr Kinder
in der Einrichtung machen den Mitarbeiter*innen zu schaffen. „Wir
können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen
in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer
Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“, schrieben die
Erzieher*innen des KND schon im März 2022 in einer Gefahrenanzeige an
ihren Arbeitgeber, die Senatsverwaltung für Jugend. Sie liegt der taz vor.
Eine Gefahrenanzeige, auch Überlastungsanzeige genannt, ist eine
schriftliche Mitteilung der Beschäftigten, in der sie für ihre
Arbeitergeberin schildern, was zu erhöhtem Stress und Überlastung führt. In
der Anzeige heißt es weiter, dass die Mitarbeiter*innen den KND als
„keinen guten Ort“ für sich und die Kinder empfinden.
Der Kindernotdienst gehört zu einem [2][Netzwerk von Beratungs- und
Unterbringungsangeboten der Jugendhilfe]. Kinder und Jugendliche in
Notsituationen bekommen hier für einige Tage ein Bett und Mahlzeiten.
[3][Seit Jahren schon fühlen sich die Mitarbeiter*innen überfordert].
Sie fordern mehr Stellen und weisen darauf hin, dass immer mehr Kinder in
der Jugendhilfe durchs Raster fallen.
Die Gefährdung, die sie für sich und die Kinder in der Einrichtung deshalb
ausmachen, schildern die Erzieher*innen in der Gefahrenanzeige anhand
unterschiedlicher Situationen, die sich ihnen zufolge im KND in Kreuzberg
abgespielt haben. Immer wieder käme es vor, dass die Mitarbeiter*innen
die Polizei oder den Krankenwagen verständigen müssten, weil sie selbst die
Situation nicht lösen könnten. So auch in einem von ihnen geschilderten
Fall, in dem demnach ein Junge eine Scheibe mit seiner Faust einschlug,
sodass der Notruf verständigt werden musste:
„Kurz nach dem Eintreffen des Arztes brach im Flur eine 13-Jährige
zusammen. Laut eigener Auskunft hatte sie Drogen konsumiert. Zum gleichen
Zeitpunkt sprangen anwesende Jungen über die von einem Sanitäter
erstversorgte 13-Jährige und forderten lautstark Verpflegung. Ein weiteres
13-jähriges Mädchen, dass offensichtlich eingekotet hatte, stand daneben
und suchte Zuwendung von einer*m der diensthabenden Erzieher*innen. In
diesem Moment rutschte dem Arzt die Frage heraus, ob es sich ‚hier um ein
Irrenhaus handelt‘.“
In der Jugendhilfe gelten Kinder wie die oben beschriebenen als
„verhaltensoriginell“, sie stellen für sich und andere oft eine Gefahr dar.
Aufgrund der schweren Vermittelbarkeit solcher Kinder und der Überlastung
anderer Jugendamtseinrichtungen blieben sie statt – wie vorgesehen – ein
bis drei Tage oft deutlich länger im Notdienst. Ein Kind etwa habe im
vergangenen Jahr 120 Tage in der Einrichtung bleiben müssen.
## Krank zur Arbeit gegen Personalmangel
Gerade für „verhaltensoriginelle“ Kinder wäre ein strukturierter Alltag u…
ausreichend Fachpersonal hilfreich. Das alles können die pädagogisch
ausgebildeten Erzieher*innen in einer Aufnahmestelle, die nur für akute
Krisen gedacht ist, aber nicht leisten. Das führe auch zu gewalttätigen
Übergriffen, letztes Jahr etwa habe ein Junge eine Erzieherin schwer
verletzt. Einige Kinder konsumierten Drogen, andere brauchten regelmäßig
Psychopharmaka.
Die Situation verschlechtert sich weiterhin, schildern die
Mitarbeiter*innen in der Gefahrenanzeige. Neben deutlich mehr Kindern
komme noch der [4][Personalmangel] dazu.
Dies geht aus einer weiteren Überlastungsanzeige der Mitarbeiter*innen
der Beratungsstelle des KND vom Dezember 2022 hervor: Das
Jugendschutzgesetz schreibt eigentlich ein Vieraugenprinzip bei der
Betreuung der Kinder vor. Damit das überhaupt eingehalten werden könne,
übernähmen Sozialarbeiter*innen, die eigentlich für Beratungsangebote wie
die Telefonhotline zuständig sind, Schichten im Unterbringungsbereich.
Laut der Anzeige sind etwa im Dezember insgesamt 18 Mitarbeiter des
Kindernotdienstes nicht arbeitsfähig, wegen Krankheit oder länger geplanten
Urlauben. Das entspreche etwa 58,1 Prozent des gesamten Stundenumfangs. Um
alle Schichten abzudecken, kämen Mitarbeiter*innen sogar krank zur
Arbeit.
## Mehr Struktur hilft
Die Senatsverwaltung für Jugend erkennt in einer Stellungnahme gegenüber
der taz „keine akute Personalnotlage aufgrund eines Personalmangels“ im
Kindernotdienst: Von insgesamt 36 Stellen seien aktuell bei
Sozialarbeiter*innen 1,65 Stellen und bei Erzieher*innen 1,25
Stellen nicht besetzt. Trotz des Fachkräftemangels könnten Stellen im KND
immer rechtzeitig besetzt werden. Durch das vorhandene Personal und die
Unterstützung der Sozialarbeiter*innen bei Engpässen sei eine
ausreichende Betreuung gewährleistet.
Die Senatsverwaltung räumt aber ein, dass es die Situation im
Kindernotdienst durch längere Aufenthaltszeiten der Kinder (2022 sind es im
Schnitt 7,5 Tage) und komplexere Hilfebedarfe für die Angestellten
schwieriger werde. Deshalb sei mehr Geld eingeplant. Es solle ebenfalls
überprüft werden, ob beim Personal aufgestockt werden müsse.
Außerdem solle das Unterstützungsangebot von Erzieher*innen ausgebaut
werden, unter anderem in Form von Beratungen des Drogennotdienstes,
Schulungen für den Umgang mit Gewalt und Aggressionen bei den Kindern und
psychosozialer Unterstützung für Kinder und Mitarbeiter*innen.
Da es mittlerweile eine längere Zeit brauche, um Kinder an andere
Einrichtungen zu vermitteln, will die Senatsverwaltung nach eigenen Angaben
die maximale Aufenthaltsdauer von drei Tagen erhöhen. Für die Kinder solle
vor Ort eine bessere Tagesstruktur geschaffen werden. Ob dafür dann auch
mehr Personal bereitstünde, bleibt in der Antwort offen. Die
Erzieher*innen forderten in der Gefahrenanzeige allerdings „aufgrund
der Dringlichkeit“ eine „baldige Verbesserung der Arbeitssituation“.
Ein Mitarbeiter, der wegen der Zustände vor Ort nun gekündigt hat, sieht
diese kurzfristige Hilfe bisher nicht gegeben. Seit der Überlastungsanzeige
im Dezember habe sich an der Gesamtsituation nichts Grundlegendes geändert,
schildert er der taz. Wie genau die Senatsverwaltung die Maßnahmen umsetzen
wolle, ist demnach noch unklar.
In der Zwischenzeit wollen die KND-Mitarbeiter*innen mit
Überlastungsanzeigen, Verhandlungen und Protestaktionen weiter für
Verbesserungen kämpfen. „Man muss sich dabei immer vergegenwärtigen, dass
es um Kinder geht, über die wir sprechen“, sagt der ehemalige Mitarbeiter.
„Das ist das Traurige daran.“
22 Feb 2023
## LINKS
[1] https://www.berlin.de/notdienst-kinderschutz/hotline/
[2] /Jugendnotdienst-in-Berlin/!5393766
[3] /Hamburgs-Jugendaemter-sind-ueberlastet/!5911198
[4] /Ueberlastete-Berliner-Jugendaemter/!5892181
## AUTOREN
Ann-Kathrin Leclère
## TAGS
Elterliche Gewalt
Jugendämter
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