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# taz.de -- Überlastete Berliner Jugendämter: Hilferuf der Helfer*innen
> Coronakrise und Ukrainekrieg haben die Lage in den Jugendämtern
> verschärft. Die Mitarbeiter*innen fordern einen „realistischen“
> Stellenschlüssel.
Bild: Die Jugendämter brauchen dringend mehr Personal
Berlin taz | Die [1][Jugendämter in Berlin] schlagen Alarm: Grund ist die
desolate Personalsituation in den [2][Regionalen Sozialpädagogischen
Diensten], kurz RSD, die Familien und Kinder in Krisensituationen begleiten
und schützen sollen. „Wir können unseren gesetzlichen Auftrag teilweise
nicht mehr erfüllen“, sagte Kerstin Kubsich-Piesk, Regionalleitung
Gesundbrunnen im Jugendamt Mitte, auf einer Pressekonferenz am Dienstag.
In Mitte betreue ein*e Mitarbeiter*in bis zu 70 Fälle. „Ideal“ und in
der Praxis leistbar, so Kubsich-Piesk, seien maximal 28 Fälle. Im Schnitt
blieben so rechnerisch pro Woche nur etwa 5 Minuten pro Familie, ergänzte
Verena Bieler, Sozialarbeiterin in der Familienberatung und
Vorstandsmitglied des Berufsverbands für Soziale Arbeit. „Aber für eine
gute Intervention braucht es das Vertrauen der Familien, es braucht Zeit.“
Berlinweit liegt die „Fallbelastung“ im Schnitt seit Jahren bei etwa 45
Fällen pro Mitarbeiter*in im RSD, wie eine Antwort der Jugendverwaltung
auf eine Anfrage der CDU-Abgeordneten Katharina Günther-Wünsch zeigt.
Konkret streiten sich die Jugendämter derzeit mit der
Senatsjugendverwaltung um mehr Personal. Hintergrund ist, dass der
Stellenschlüssel in der Jugendhilfe seit 2006 nicht grundlegend
überarbeitet worden sei, wie es von der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft heißt. Inzwischen seien aber zum einen die Bedarfe gestiegen –
nicht zuletzt durch [3][die Pandemiejahre] und aktuell [4][die
Ukrainekrise], die auch viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die
Stadt bringe. „Das sind deutlich mehr als in der Syrienkrise 2015“, sagt
etwa Silke Bishop, Geschäftsführerin von Kinder lernen Leben, eines freien
Trägers in der stationären Jugendhilfe.
Zum anderen berücksichtige der zugemessene Stellenschlüssel nur die
Fallzahlen – nicht aber die Art der Tätigkeit, kritisiert die GEW. Die
Bearbeitung einer Kinderschutzmeldung sei anders aufwendig als die
Begleitung einer Familie vor Gericht. Das laufe in anderen Bundesländern,
etwa in Bayern, längst anders. Zumal der Bund 2021 ein Gesetz zur Stärkung
von Kindern und Jugendlichen beschlossen, dass die Aufgabenbereiche der
Jugendhilfe noch erweitert – zum Beispiel um Aspekte der Inklusion.
## Bewerber*innen machen Rückzieher
Kubsich-Piesk vom Jugendamt Mitte sagt, vier von rund 22 Stellen im RSD
Gesundbrunnen seien derzeit nicht besetzt – immerhin ein gutes Fünftel. „Es
gibt zwar durchaus Bewerber auf freie Stellen, aber viele wollen sich die
Arbeitsbelastung dann einfach nicht zumuten.“
Berlinweit waren zum Stichtag 1. Dezember 2021 rund 102 von 898
Vollzeitstellen nicht besetzt, wie eine Antwort der Jugendverwaltung auf
die CDU-Anfrage heißt. Neuere Zahlen gibt es nicht. Die Unterschiede
zwischen den Bezirken sind groß: Während in Friedrichshain-Kreuzberg alle
Stellen als besetzt gemeldet wurden, waren in Marzahn-Hellersdorf 24,9
Stellen im RSD offen, das sind in dem Bezirk rund 30 Prozent.
Bereits 2013 und 2015 waren die Jugendämter auf die Barrikaden gegangen und
hatten in einer viel beachteten Aktion weiße Bettlaken aus den Fenstern
gehängt – quasi als Kapitulationserklärung in Richtung des Senats. 2014
hatte sich in der GEW auch die bezirksübergreifende Arbeitsgemeinschaft
Weiße Fahnen gegründet, die eine bessere Personalsituation erwirken wollte.
„Wir sehen da aber immer noch kein Licht am Horizont“, sagte Ronny Fehler,
Referent im Vorstandsbereich Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit bei der
GEW. Es mangele an „greifbaren Ergebnissen“.
Also wolle man jetzt auch öffentlich „Druck machen“, sagt Fehler – zumal
Ende des Jahres auch ein gemeinsamer Runder Tisch für einen besseren RSD
von Senatsverwaltung und Bezirken ausläuft. Die Jugendverwaltung verweist
unter anderem auf einen Ausbau der Fortbildungsangebote sowie der
Studienplatzkapazitäten für Soziale Arbeit in den letzten Jahren, um dem
Fachkräftemangel zu begegnen.
Den Jugendämtern geht das am Kern des Problems vorbei: Die Berechnung des
Stellenschlüssels müsse dringend überarbeitet werden, heißt es auch von den
Vertreter*innen der freien Träger am Dienstag unisono – damit die
Fachkräfte auch bleiben und nicht gleich wieder erschöpft den Dienst
quittieren. „Je größer die Personalnot in den Jugendämtern, desto
schlechter können wir unsere Arbeit machen“, sagt Sozialarbeiter und
GEW-Vorstandsmitglied Fabian Schmidt.
Gemeinsame Hilfekonferenzen mit dem Jugendamt, der „Auftakt für jeden
sinnvollen Hilfeplan bei neuen Fällen“, sagt Schmidt, „finden oft überhau…
nicht statt.“ Immerhin aber seien die Jugendamtsmitarbeiter*innen
in der Coronapandemie inzwischen auch mit Diensthandys ausgestattet worden.
Das habe die Erreichbarkeit verbessert.
Falls sich bei den nächsten Gesprächen mit der Jugendverwaltung nichts
bewegen sollte, denke man auch durchaus wieder über weitere Protestformen
nach, hieß es am Dienstag. Weiße Fahnen nicht ausgeschlossen.
15 Nov 2022
## LINKS
[1] /Soziale-Arbeit-in-Berlin/!5891329
[2] /Jugendaemter-in-Berlin/!5724306
[3] /Studie-zu-Ausbreitung-von-Coronavirus/!5892687
[4] /Unterbringung-von-Gefluechteten-in-Berlin/!5890614
## AUTOREN
Anna Klöpper
## TAGS
Jugendämter
Gewerkschaft GEW
Jugendhilfe
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Sachsen
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Schule und Corona
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