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# taz.de -- Migration als Erpressungspotenzial: „Team Europe“ nutzt Not Tun…
> Was aussieht wie eine Situation, von der beide profitieren, ist de facto
> eine EU-Politik, die ihre Interessen in der Migrationspolitik
> durchzusetzt.
Bild: „Team Europe“ mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied und Premier…
Tunesien braucht dringend eine Finanzspritze. Die EU ist bereit, 900
Millionen Euro zu bezahlen, wenn das nordafrikanische Land dafür sorgt,
dass von seiner Küste keine Migrationsboote mehr Richtung Europa ablegen.
Das hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen [1][bei ihrer Reise
nach Tunesien] am Wochenende in Aussicht gestellt. Außerdem will die EU ein
gutes Wort beim Internationalen Währungsfonds (IWF) einlegen, dass dieser
einen 1,9-Milliarden-Dollar Kredit für Tunesien freigibt.
„Die Europäer drehen den Tunesiern den Arm auf den Rücken“, beschreibt das
[2][Tunesische Forum für Wirtschaftliche und soziale Rechte] den in
Aussicht gestellten Deal: Tunesien im Bettlergewand und im Griff der EU.
Tunesien hat immer wieder betont, dass es nicht die Rolle des
EU-Grenzschützers übernehmen will. Doch es droht der wirtschaftliche
Kollaps.
Das Land kann im Moment gerade seinen Schuldendienst schultern. Die
Schulden machen fast 80 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Jede
Finanzspritze von außen sorgt dafür, dass Tunesien sich gerade so über
Wasser hält. Viele Tunesier stehen ökonomisch und sozial mit dem Rücken zur
Wand. Vier von zehn Jugendlichen sind arbeitslos. Auch ein Grund, warum
unter den Migranten, die sich auf den Weg nach Europa machen, so viele
Tunesier sind.
„Team Europe“ nannte von der Leyen sich und ihre nach Tunis mitgereisten
EU-Politiker, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, den
niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Das sollte neuen Schwung
symbolisieren. Doch das „Team Europe“ redet bisher meist im Konjunktiv,
denn die Inhalte des Deals und die Frage, wie weit die Tunesier mitmachen,
sind noch alles andere als klar.
## Nicht nur Grenzpolizei spielen
Dennoch sprach die italienische Rechtspolitikerin Meloni von einem
„erreichten Meilenstein“. Ihre Vorstellung: Die Tunesier sollen nicht nur
Grenzpolizei spielen, sondern auch noch alle Migranten zurücknehmen, die es
nach Europa geschafft haben und dort als „illegal“ bewertet wurden – sofe…
sie auf ihrer Reise von der tunesischen Küste abgelegt haben. Ein alter
rechtspopulistischer Traum in Europa: Das Flucht- und Migrationsproblem
gegen Cash vollkommen auf Nordafrika abzuwälzen. Nur, dass dort bisher kein
Land darauf eingegangen ist.
Wie weit sich Tunesien darauf einlassen wird, hängt nicht nur von seiner
ökonomischen Verzweiflung, sondern auch von Präsident Kais Saeid ab. Der
hat Ende 2021 das Parlament aufgelöst und regiert das Land inzwischen fast
wieder nach dem Handbuch arabischer Autokraten. Zu den Neuwahlen des
Parlaments, dessen Rechte er massiv beschnitten hatte, kamen vor ein paar
Monaten gerade einmal acht Prozent der Wahlberechtigten zum Urnengang.
Saeid hat ein echtes Legitimationsproblem. Für nächstes Jahr stehen
Präsidentenwahlen an; Saied braucht dringend eine Erfolgsgeschichte. Der
EU-Deal könnte so eine Geschichte sein.
## 105 Millionen potenzielle Flüchtlinge
Aber nicht nur die EU verdreht die Arme, auch für Nordafrika steckt hier
einiges Erpressungspotenzial. Der ehemalige Militärchef und ägyptische
Präsident Abdel Fatah al-Sisi spricht bei Besuchen europäischer Politiker
in Kairo immer gerne von angeblich 9 Millionen Migranten und Flüchtlingen
in Ägypten und seiner eigenen, 105 Millionen zählenden Bevölkerung, von
denen viele aufgrund ihrer ökonomischen Verzweiflung sich ohne Zögern auf
den Weg nach Europa machen würden.
Allein diese Andeutungen öffnen den europäischen Geldbeutel. Mit Blick auf
den EU-Tunesien-Deal wäre es für Ägypten geradezu ratsam, Migrationsboote
in großem Stil von der ägyptischen Küste ablegen zu lassen, um dieses
Erpressungspotenzial zu unterstreichen. Das Thema Migration steckt voll
politischen Zynismus auf allen Seiten.
Im Fall Tunesiens entbehrt das auch nicht einer gewissen Ironie. Das Land
hatte vor zehn Jahren infolge des Arabischen Frühlings als einziges ein
demokratisches Experiment gewagt. Damals hätte es dringend eine Art
europäischen Marschallplan gebraucht.
Man hätte aus dem Land ein demokratisches Schaufenster mitten in der
autokratisch regierten arabischen Welt machen können, ähnlich wie einst
Westberlin in Richtung Osten. Es hätte nicht viel gekostet, das kleine
Tunesien mit seinen 12 Millionen Einwohnern zu einem demokratischen und
wirtschaftlichen Musterland zu machen – zu einem Gegenmodell des vom
Militär regierten Ägypten und der zutiefst antidemokratischen
Golfmonarchien.
Aber Europa hat Tunesien im Stich gelassen. Außer ein paar
Routineentwicklungsprogrammen und ein paar Präferenzen im Handel war da
nicht viel. Tunesiens Demokratie ist an der Wirtschaft gescheitert,
woraufhin der Möchtegernautokrat Saeid an die Macht kam.
## Keine Strategie vorhanden
Hätte Europa damals über seinen Tellerrand hinaus gesehen und strategisch
gedacht, hätte eine Investition in die tunesische Demokratie das Land
stabilisiert und der tunesischen Jugend eine Perspektive gegeben, sich
daheim ein Leben aufzubauen. Es hätte vielleicht sogar ein Land geschaffen,
in der einige der Flüchtlinge aus anderen Teilen Afrikas ein Auskommen
gefunden hätten. Damit wäre natürlich nicht das gesamte Migrationsproblem,
aber zumindest ein Teil davon gelöst worden.
Heute kommt jede Hilfe zehn Jahre zu spät. Das ganze kostet die EU
wahrscheinlich viel, viel mehr als eine finanzielle Intervention damals
gekostet hätte. So wird Tunesien und mit ihm Kais Saeid als
Migrationsbremse und Grenzwächter eingekauft. Denkt man das weiter, endet
das in Internierungslagern für die vom tunesischen Grenzschutz abgefangenen
Migranten. Ein Modell, dessen menschenverachtende Konsequenz wir aus Libyen
kennen. Wie viel effektiver und humaner, auch im Namen der so oft zitierten
europäischen Werte, wäre es gewesen, der jungen Demokratie auf die Füße zu
helfen.
12 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/tunesien-eu-migration-102.html
[2] https://ftdes.net/
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
## TAGS
Migrationspartnerschaft
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