# taz.de -- Barsch mit drittem Geschlecht?: Transvestiten des Wassers | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (171): Barsche sind | |
> fähig zur geschlechtlichen Mimikry. Und Kant-kompatibel sind sie auch. | |
Bild: Ein Wrackbarsch bei christlichem Tiefgang | |
Um die ökonomische Verwertung von Raubfischen kreist der Dokumentarfilm | |
[1][„Darwins Albtraum“] von Hubert Sauper und Nick Flynn. Darin geht es um | |
den im Victoriasee ausgesetzten Nilbarsch, dessen Filetstücke in die EU | |
exportiert werden, während den Einheimischen nur Kopf und Schwanz bleiben. | |
„Bevor der Barsch im Victoriasee ausgesetzt wurde, gab es dort viele | |
Fischarten. Er fraß sie alle auf. Aber ökonomisch ist das gut“, so | |
beurteilt ein Barschexporteur diese postkoloniale Ökokatastrophe. | |
Auch hierzulande muss die Artenvielfalt in vielen Gewässern immer wieder | |
neu hergestellt werden, nicht zuletzt, weil die von Enten eingeflogene Brut | |
der Barsche sich schnell vermehrt und alle anderen Arten frisst: „Da kommt | |
kein Frosch mehr hoch“, so Bruno Haas vom Kronberger Angelsportclub. | |
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz züchtete Buntbarsche. Im August 1940 | |
wurde er zum Professor für vergleichende Psychologie an der Philosophischen | |
Fakultät der Universität Königsberg ernannt, aber schon ein Jahr später zur | |
Wehrmacht eingezogen. Sein Labor bestand aus einem Aquarium mit | |
Buntbarschen. | |
Es ging Lorenz auf dem „Kant-Lehrstuhl“ darum, dessen Aprioribegriffe der | |
Französischen Revolution darwinistisch-biologisch aus der Entwicklung und | |
Struktur unseres Erkenntnisapparats, das heißt aus der natur- | |
beziehungsweise stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen abzuleiten | |
– um den Kant’schen Dualismus von Natur und Vernunft zu überwinden. Mit | |
seinen Barschen also die Logik als Ergebnis von Mutationen zu begreifen? | |
## Die Flosse a priori | |
In seinem Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer | |
Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“ (1973) hörte sich das dann so | |
an: „So wie die Flosse a priori gegeben ist, vor jeder individuellen | |
Auseinandersetzung des Jungfischs mit dem Wasser, und so wie sie diese | |
Auseinandersetzung erst möglich macht, so ist dies auch bei unseren | |
Anschauungsformen und Kategorien in ihrem Verhältnis zu unserer | |
Auseinandersetzung mit der realen Außenwelt durch unsere Erfahrung der | |
Fall.“ | |
Bei den nordamerikanischen Blaukiemenbarschen fanden Biologen der | |
Düsseldorfer Universität kürzlich heraus: „Es gibt große territoriale | |
Männchen, die ein Nest bauen und hier nacheinander mit mehreren Weibchen | |
ablaichen. Im Umkreis des Nestes befinden sich aber kleinere, weniger | |
auffällige Männchen, die in einem unbewachten Augenblick hervorschießen und | |
ihre Spermien über das Gelege abgeben, sich also einen Fortpflanzungserfolg | |
erschleichen, weshalb sie von ihnen als ‚sneaker‘ (Schleicher) bezeichnet | |
werden.“ | |
Der Biologe Lutz Dröscher berichtete 1992 von kanadischen Sonnenbarschen, | |
deren Männchen sich statt zu Schleichern zu „Satelliten“ wandeln, indem | |
eine große Anzahl klein bleibt und wie die Weibchen Streifen ausbildet. Auf | |
diese Weise haben die großen Männchen nichts dagegen, dass sie in ihr | |
Revier schwimmen, nicht einmal, dass sie die Eier ihrer Weibchen | |
befruchten. Stattdessen versuchen sie selbst, sich mit diesen | |
„zeugungsfähigen Transvestiten“ zu paaren. „Für die Wissenschaft ist das | |
ein aufsehenerregender Gewinn: Nach ‚Männchen von der anderen Gestalt‘ | |
wurde schon lange gesucht.“ Politisch korrekt würden wir heute vom „dritten | |
Geschlecht“ sprechen, bei den kanadischen Sonnenbarschen handelt es sich | |
jedoch eher um männliche Mimikry. | |
## Öko OÖ | |
Die Sonnenbarsche leben inzwischen auch in europäischen Gewässern. Der | |
Ökologe Josef Reichholf berichtete 2017 [2][in der Linzer Zeitschrift Öko | |
L], dass er am Ufer der Unteren Inn beobachtete, wie rund ein Dutzend | |
türkis gemusterte Männchen im Flachwasser „intensiv den Boden mit Schlägen | |
der Schwanzflosse und mit dem Maul bearbeiteten“, um eine Laichgrube | |
herzustellen. Aus einem Schwarm etwas kleinerer Weibchen löste sich sodann | |
eins nach dem anderen und glitt zu einer der Gruben herab – vom | |
Revierbesitzer gelenkt. Dort setzte es seine Eier ab. Zuletzt „landeten | |
mehrere Gelege in einer Laichgrube“. Die Männchen bewachten sie auch | |
gegenüber den Weibchen, weil diese versuchten, die vor ihnen abgelegten | |
Eier zu fressen. | |
Wegen der spiegelnden Wasseroberfläche bekam der Autor nicht mit, wie die | |
Männchen sie besamten. Die Fähigkeit von Sonnenbarsch-Männchen, sich als | |
Weibchen zu „tarnen“, machte das Geschehen zusätzlich unübersichtlich. Bei | |
wieder klarer Sicht sah er, „dass die Männchen ihre Grube sauber hielten | |
und Frischwasser zufächelten“. Als die Jungfische geschlüpft waren, | |
verdrückten sich die Männchen mit ihnen zwischen Wasserpflanzenbestände. | |
Später erfuhr Reichholf: „Vor dem Ablaichen erfolgt ein ausgeprägtes | |
Liebesspiel mit einigen Scheinpaarungen.“ | |
Im Jahr 2003 wurde eine Barschart durch einen Zeichentrickfilm berühmt, | |
„Findet Nemo“, in dem es um einen kleinen Südseekorallenfisch geht, der | |
zur Gattung der Riffbarsche gehört und den man hier „Clownfisch“ nennt. | |
Die Philosophin Martina Stephany schrieb 2008 ihre Doktorarbeit über die | |
„Beziehung von Menschen und Tieren im Zeichentrickfilm“, darin konzentriert | |
sie sich im Wesentlichen auf den Welterfolg „Findet Nemo“, der zur Folge | |
hatte, dass erst die Aquarienhäuser Hinweisschilder zu den Becken mit | |
Clownfischen anbrachten und dann die in den Korallenriffen noch frei | |
lebenden Clownfische fast ausgestorben wären, weil alle | |
Salzwasser-Aquarienbesitzer Clownfische haben wollten und die einheimischen | |
Fischer den Riesenbedarf nur dadurch meinten befriedigen zu können, indem | |
sie die Zierfische mit Natriumcyanid betäubten und einsammelten: Das Gift | |
wird vor allem in den Korallenriffen Südostasiens verwendet. | |
Weltweiter Marktführer dieser Chemikalie ist der Essener Konzern Evonik | |
Industries. Auf der Wissenschaftsseite Spektrum.de heißt es: „Viele | |
Meeresbiologen halten das Fischen mit Cyanid für eine der größten | |
Bedrohungen der Ökologie südostasiatischer Gewässer. Nach Schätzungen tötet | |
das Gift etwa die Hälfte der Fische schon am Riff, und von den Übrigen | |
gehen vierzig Prozent ein, bevor sie überhaupt ein Aquarium erreichen.“ | |
Die Clownfische sind nach Erreichen der Geschlechtsreife zunächst alle | |
männlich. Sie leben in „Polyandrie“ – ein Weibchen lebt mit mehreren | |
Männchen in einer Gruppe von Anemonen, die sie füttern und deren Berührung | |
sie ständig suchen. Das dominierende größte Tier in einer Seeanemone ist | |
immer das einzige Weibchen. Stirbt es, wandelt sich das stärkste Männchen | |
innerhalb einer Woche in ein Weibchen um, und von den übrigen entwickelt | |
sich eines zum sexuell aktiven Männchen. Man könnte sich diese Barschart | |
geradezu als „Modelltier“ für die Genderforschung vorstellen. | |
5 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fernsehserien.de/filme/darwins-albtraum | |
[2] https://botanischergarten.linz.at/7392.php | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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