# taz.de -- Die Wahrheit: Gemeinsam auf einen Haufen kacken | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (170): Erachten sie es | |
> für nötig, treten Faultiere durchaus in Aktion und begeben sich zu Boden. | |
Bild: Hängt gern in der Gegend herum: das total träge Faultier | |
Im Dortmunder Zoo fiel das Faultier Julius vom Baum und einem kleinen | |
Jungen namens Mats auf den Kopf. „Das rettete dem süßen Faultier das Leben, | |
der Junge kam mit einer Beule davon“, berichtete damals Die Welt. Das 2005 | |
im Zoo geborene Zweifingerfaultier wurde mit der Flasche aufgezogen, weil | |
seine Mutter nicht genug Milch hatte. Nach seinem Absturz kam Julius auf | |
die Krankenstation, wo man eine Blasenentzündung feststellte, die eventuell | |
einen Schwächeanfall hervorrief, der ihn abstürzen ließ. | |
Eigentlich fallen Faultiere nicht vom Baum und Julius schon gar nicht, denn | |
er erwies sich zuvor in „Bewegungsstudien“ bei den Evolutionsbiologen der | |
Universität Jena als ausgesprochen geschickter Kletterer, „so dass die | |
Wissenschaftler mit ihrer Hochgeschwindigkeitskamera Bilder machen | |
konnten“, wie der Dortmunder Zoo mitteilte. Diese Faultierforschung darf | |
verwundern, denn Faultiere sind so langsam, dass die Jenaer die | |
„Bewegungen“ von Julius auch hätten zeichnen können. Aber vielleicht haben | |
sie ihn sich ausgeliehen, um etwas mit ihrer neuen teuren Kamera | |
anzufangen. | |
Als Julius von seinem Blasenleiden genesen war und wieder im Zoo-Glashaus | |
abhing, bekam ich ein Foto geschickt, das zeigt, wie er über dem Kopf einer | |
Dame an einem Ast entlanghangelt – er fiel aber diesmal nicht runter. | |
Dessen ungeachtet gibt es ein besseres Faultierbeispiel für „ein gut | |
abgehangenes Leben“, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Gemeint ist | |
damit Jan, ein Zweifingerfaultier im Krefelder Zoo. Jan ist über 50 Jahre | |
alt und damit das älteste bekannte Faultier, was ihm einen Eintrag ins | |
„Guinness Buch der Rekorde“ bescherte. Mit Lolita und Triene wurde er bis | |
jetzt 19 Mal Vater. | |
Bei diesen Faultiernachrichten, vor allem aber mit den sich mehrenden | |
Bildern und Clips von Faultieren (Stichwort „Kapitalismuskritik“ und | |
„Entschleunigungsbeispiel“), befürchtet man in den sozialen Medien bereits, | |
dass diese äußerst trägen südamerikanischen Baumbewohner, die nur alle zehn | |
Tage auf die Erde klettern, um zu kacken, den beliebten Katzenfotos den | |
Rang ablaufen könnten. Zu allem Überfluss erschien jetzt in der Berliner | |
Reihe „Naturkunden“ auch noch ein Band „Faultiere. Ein Porträt“ von To… | |
Keiling und Heidi Liedke, der nichts mehr zu wünschen übrig lässt. | |
## Der Gesang der Faultiere | |
Den Autoren zufolge begann die „Faultier-Manie“ bereits im 18. und 19. | |
Jahrhundert, nachdem man in Südamerika das Skelett eines Riesenfaultiers, | |
eines Megatheriums, das so groß wie eine Elefant wurde, ausgegraben hatte. | |
Zuvor, im 16. Jahrhundert, mit den Eroberungen und Erkundungen der Europäer | |
in Südamerika, war bereits der Gesang der Faultiere auf Begeisterung | |
gestoßen: Er besteht aus sechs gleichen Tönen nur jedes Mal eine Tonlage | |
tiefer. In seiner „Naturgeschichte“ vertrat Gonzalo de Oviedo „die steile | |
These, die Menschen hätten die Musik entdeckt, indem sie den Faultieren die | |
Tonleiter abgehört haben“. Damals war der Hexachord die im Mittelalter und | |
in der Renaissance „am weitesten verbreitete Tonart“. | |
Im 17. Jahrhundert kam der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher | |
in seiner „Misurgia Universalis“ noch einmal auf die „wunderbare Art der | |
Stimmbildung“ des Faultiers zurück, deren Gesang er in seiner Enzyklopädie | |
mit einer Notendarstellung zeigte. Im 18. Jahrhundert ordnete Carl von | |
Linné die Faultiere in seinem „Systema Naturae“ zusammen mit Elefanten, | |
Ameisenbären und Schuppentieren in seiner Ordnung „Bruta“ ein. Für den | |
Naturhistoriker Georges-Louis Leclerc de Buffon waren Faultiere „Monster | |
der Unvollkommenheit“. | |
Beim Riesenfaultier-Skelett, das einen Begeisterungssturm bei den | |
englischen Naturforschern ausgelöst hatte, war man sich zunächst nicht | |
sicher gewesen, um was es sich dabei handeln könnte. An dem „Rätselraten“ | |
beteiligte sich laut Keiling und Liedke bald „ganz Europa“, mitunter in | |
Gedichtform. Es war der französische Naturforscher Georges Cuvier, der das | |
Tier als Bodenfaultier identifizierte. Er zog bereits eine Verbindung zu | |
den heutigen kleinen Faultieren, die höchstens noch Dachsgröße erreichen | |
und nach aller Logik auch eigentlich längst hätten aussterben müssen. | |
Von da aus ist es nicht mehr weit bis zu der protestantischen Frage: Ob das | |
Faultier so verwerflich faul ist, dass es seinen Namen zu Recht bekommen | |
hat? Immanuel Kant, der sowieso den Tieren gegenüber ein | |
„Überlegenheitsgefühl“ hegte, fiel am Faultier nur „das lächelnde Gesi… | |
und die „plumpe Taille“ auf. Goethe schrieb dem Bonner Naturforscher Eduard | |
d’Alton, der kurz zuvor eine Studie über „Die Faultiere und die | |
Dickhäutigen“ veröffentlicht hatte, dass es sich zwischen dem | |
Riesenfaultier und den jetzigen um eine „morphologische | |
Ähnlichkeitsbeziehung“ handeln würde und dass der „Geist“ der verschied… | |
Arten die evolutionäre Entwicklung bestimme. Neuerdings hat der englische | |
Botaniker Rupert Sheldrake an diese Goethe’sche Idee angeknüpft – mit | |
seiner nichtmaterialistischen „Theorie der morphogenetischen Felder“, ohne | |
Faultiere zu erwähnen. | |
## Der Charme der Faultiere | |
Im Buch „Faultiere“ ist eine Bleistiftzeichnung mit zwei lächelnden | |
Faultieren von Alexander von Humboldt abgedruckt, wobei die Autoren | |
mutmaßen, dass Humboldt vielleicht „im Privaten dem Charme der Faultiere | |
verfallen“ sei. Ganz im Gegensatz zu Hegel: Bei niemandem in der | |
europäischen Geistesgeschichte kommen die Faultiere so schlecht weg wie bei | |
Hegel, der keine einzige gute menschliche Eigenschaft bei diesen Tieren | |
findet, die er deswegen in seinen Vorlesungen zur Ästhetik als unschön | |
begriff. Aber er geht noch weiter: „An der Stelle, die Hegel den Faultieren | |
in der Ordnung der Natur zuweist, steht in seiner Theorie der Gesellschaft | |
der Pöbel – das arbeitsunwillige Proletariat.“ Nietzsche hat dagegen die | |
Faultiere mit einem Witz abgetan: „Ihr meint doch nicht, daß ich mit Muße | |
und Müßiggehen auf euch ziele, ihr Faultiere?“ | |
Der Verhaltensforscher Hans Krieg beobachtete 1936 in Brasilien, dass | |
gleich mehrere Faultiere von ihren Bäumen heruntergeklettert waren, um auf | |
einen gemeinsamen Haufen zu kacken. Danach kletterten sie wieder auf ihre | |
Bäume. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat diese Beobachtung in seinem | |
Buch „Die eifersüchtige Töpferin“ psychoanalytisch aufgegriffen: Faultiere | |
sind anal kontinent (sie entleeren sich selten) und oral eher verhalten | |
(sie stopfen sich wenig in ihren Mund). | |
Letzteres stimmt jedoch nicht, laut Keiling und Liedke stopfen sie nahezu | |
ununterbrochen Blätter in sich hinein – und das müssen sie auch bei dieser | |
nährstoffarmen Nahrung. Ihr langsamer Stoffwechsel erklärt zum Teil ihre | |
geringe Beweglichkeit. So gering, dass sich Algen auf ihrem Pelz ansiedeln, | |
während sie kopfunter an einem Ast hängen. Von den Algen leben Bakterien | |
und die Larven einer Mottenart. Der Spiegel schreibt: „Für die Motten in | |
ihrem Pelz steigen Faultiere sogar vom Baum – eine lebensgefährliche | |
Aktion. Doch sie lohnt sich, wie Forscher herausfanden …“ | |
Wo man früher überall scharfe Konkurrenz sah, wittert man nun beim Faultier | |
eher romantisches Zusammenspiel. | |
22 May 2023 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
Biologie | |
Tiere | |
Faulheit | |
Tiere | |
Schweine | |
Reiseland Italien | |
Die Wahrheit | |
Tiere | |
Giraffe | |
Sex | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Streithähne mit scharfen Zähnen | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (173): Die ungestümen und | |
wie kleine Füchse aussehenden Flughunde können sehr anhänglich werden. | |
Die Wahrheit: Unbeliebte Wühler auf langen Beinen | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (172): Warzenschweine | |
frieren leicht unter ihrer Mähne und mögen deshalb höhere Temperaturen. | |
Die Wahrheit: An den Gestaden des Gagasees | |
Von diversen Taucherinnen und Tauchern, von Faschisten und von blühenden | |
Zitronen: Eine Reiseminiatur. | |
Barsch mit drittem Geschlecht?: Transvestiten des Wassers | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (171): Barsche sind fähig | |
zur geschlechtlichen Mimikry. Und Kant-kompatibel sind sie auch. | |
Die Wahrheit: Aufstand gegen die Menschen | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (169): Kooperation gab es | |
schon immer unter Tieren, sie gilt aber gerade als Neuentdeckung. | |
Die Wahrheit: Im Passgang nach Paris | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (168): Giraffen sind zwar | |
kaum zu übersehen, bleiben aber dennoch rätselhaft. | |
Die Wahrheit: Vertauschte Geschlechtswerkzeuge | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (167): Bei den Insekten | |
Neotrogla haben die Weibchen einen Penis und die Männchen eine Vagina. |