| # taz.de -- Mount-Everest-Besteiger Tenzing Norgay: Der gestohlene Triumph | |
| > Vor 70 Jahren bestieg Tenzing Norgay Sherpa zusammen mit Edmund Hillary | |
| > den Mount Everest. Doch im Westen wird vor allem Hillary gefeiert. | |
| Bild: Tenzing Norgay auf einem Foto von 1975 | |
| Als Traumbesetzung galten die beiden nicht. Ein kleiner nepalesischer | |
| Bergführer, der in Indien lebte, Tenzing Norgay Sherpa, und ein baumlanger | |
| Bienenzüchter aus Neuseeland, Edmund Hillary, standen vor 70 Jahren, [1][am | |
| 29. Mai 1953, als erste Menschen auf dem Mount Everest], dem mit 8.848 | |
| Metern höchsten Berg der Welt. Als die Nachricht ihres Triumphs wenige Tage | |
| später in London eintraf, wurde dort gerade die Krönung von Elizabeth II. | |
| gefeiert. | |
| Fast so hatten es die britischen Organisatoren des Evereststurms auch | |
| geplant: Zur Feier der neuen Königin sollte der höchste Gipfel erklommen | |
| sein und höchstsymbolisch dem Commonwealth eine herrliche Zukunft winken. | |
| Doch die zwei Engländer, die als erstes Gipfelsturmduo auserkoren waren, | |
| Tom Bourdillon und Charles Evans, kehrten erschöpft und erfolglos um. Dann | |
| musste halt das zweite Gipfelteam ran, Tenzing und Hillary. | |
| Der 1914 in Tibet geborene Tenzing, wie er sich nennen ließ, war der | |
| Erfahrenste. 1953 war es bereits seine siebte Everestexpedition. 1935 | |
| hatten Briten ihn als Träger für einen der vielen, letztlich doch | |
| scheiternden Anläufe verpflichtet. 1953 war er als Sirdar angestellt | |
| worden: Als derjenige, der die anderen Träger leitet und Ansprechpartner | |
| für die britischen Herren ist. Es war Edmund Hillary, der sich für Tenzing | |
| als Gipfelkletterer starkmachte. Die Mitglieder des noblen Himalayan Club | |
| in London brachen in hämisches Gelächter aus, als sie von dem Plan hörten. | |
| „Was? Ein Kuli soll den Everest bezwingen?“ | |
| Kurz bevor es an den Berg ging, war die gesamte Expeditionsmannschaft in | |
| die britische Botschaft in Kathmandu eingeladen. Die westlichen Alpinisten | |
| schliefen im Gebäude, die Sherpa brachte man in einer Garage unter, einem | |
| früheren Stall ohne Toiletten. Tenzing Norgay protestierte im Namen der | |
| Träger, wurde aber abgewiesen. Am nächsten Morgen urinierten die Träger aus | |
| Protest auf die Straße, unmittelbar vor dem Gebäude. | |
| ## Ohne Sherpa konnte es nicht gelingen | |
| „Es machte die Leute in der Botschaft richtig sauer, dass ihnen auf diese | |
| Weise eine Lektion erteilt wurde“, heißt es in Tenzings Autobiografie. Sein | |
| letztlicher Gipfelerfolg schmeckte dem Vereinigten Königreich auch nicht | |
| wirklich. Die britische High Commission mit Sitz in Delhi warnte in einer | |
| Depesche davor, dass es „Elemente in Kathmandu“ gebe, die womöglich | |
| Tenzings Erfolg „als Triumph der asiatischen Rasse über Europa“ | |
| interpretieren könnten. | |
| Doch bei allem rassistischen und kolonialistischen Getöse: Ohne Sherpa | |
| konnte das Projekt nicht gelingen. Sherpa sind ein Volk im zentralen und | |
| südlichen Himalaja. Gerade die oft auf 4.000 Meter Höhe lebenden Sherpa | |
| sind meist bergerfahren, trittsicher, haben sich an die Höhe angepasst, | |
| kennen das Gelände, können das Wetter einschätzen und, ganz wichtig, | |
| verstehen etwas von Lawinen. Überwiegend wurden Männer verpflichtet, | |
| [2][aber es gibt auch viele Frauen, Sherpanis, die als Trägerinnen | |
| arbeiten]. | |
| Schon bei der ersten britischen Himalajaexpedition – 1895 wollte Albert F. | |
| Mummery den Nanga Parbat (8.125 Meter) besteigen – waren einheimische | |
| Träger dabei, zwei von ihnen verunglückten tödlich. Immer wieder kommt es | |
| im Himalaja zu Unfällen. Als 1934 eine deutsche Expedition zum Nanga Parbat | |
| zunächst die Forderungen der Träger nach besserer Ausrüstung und mehr Essen | |
| unterdrückt hatte, kam es zu einer Katastrophe: Sechs Sherpa und vier | |
| Deutsche starben. | |
| ## Verantwortung im eigenen Interesse | |
| Der US-amerikanische Autor Jonathan Neale schreibt, dass die Sherpa nach | |
| 1934 aus ihrem eigensten Überlebensinteresse Verantwortung übernehmen | |
| mussten: „Sie konnten sich nicht mehr leisten, wie Kinder behandelt zu | |
| werden.“ Streiks zur Durchsetzung ihrer Forderungen häuften sich. Die | |
| bislang letzte größere Katastrophe [3][geschah 2014, als 16 nepalesische | |
| Bergführer am Everest durch eine Lawine umkamen], während sie die Pisten | |
| für die vielen Bergtouristen präparieren mussten, die Jahr für Jahr auf den | |
| höchsten Berg der Welt hochgeführt werden. | |
| Nach dem Gipfelerfolg von 1953 wurde im Himalajagebiet der Schlager „Hamro | |
| Tenzing Sherpa“ populär, manchmal hört man ihn noch heute. „Unser Tenzing | |
| Sherpa erklomm den Gipfel des Himalajas“, heißt es, der Refrain endet so: | |
| „Er hat Hillary über die schwierigen Wege geführt.“ Nicht Edmund Hillary, | |
| sondern Tenzing Norgay gilt im Himalaja als der eigentliche Erstbesteiger. | |
| In Europa und Nordamerika hingegen ist oft von „Hillary und seinem Sherpa“ | |
| die Rede. Sherpa gilt hier als Synonym für Träger. Als Günter Jauch 2000 | |
| bei der RTL-Show „Wer wird Millionär?“ die entscheidende Millionenfrage | |
| stellte, wollte er von seinem Kandidaten wissen, wie Hillarys Begleiter | |
| hieß. Als derart schwer gilt dieses Wissen hierzulande. | |
| ## Über Nacht zum Nationalhelden | |
| Tenzing ist ohne Schulbesuch aufgewachsen und war Analphabet, aber sein | |
| Biograf Ed Douglas beschreibt ihn als einen lebenslang Lernenden. Sprachen | |
| lernte er schnell, beim Bergsteigen bekam er Selbstbewusstsein, und die | |
| Religion wurde ihm bald fremd. „Wahre Religion ist das eine“, sagte er. | |
| „Ihre Erscheinungen und Praktiken können leider etwas anderes sein.“ | |
| Sein vierjähriger Sohn starb 1939, vermutlich weil er verdrecktes Wasser | |
| getrunken hatte, seine erste Frau starb 1944 nach langer Krankheit. „Das | |
| war schrecklich für mich, natürlich, und auch für unsere Töchter, Pem Pem | |
| und Nima, die gerade fünf und vier Jahre alt waren.“ | |
| Für Tenzing Norgay selbst hatte sich mit dem Everesterfolg alles | |
| verändert. Nie mehr arbeitete er als Sirdar oder gar als Träger, er war | |
| über Nacht zum Nationalhelden Nepals und Indiens geworden. In Darjeeling | |
| wurde er auf Initiative des indischen Premierministers Jawaharlal Nehru zum | |
| Direktor des neu eingerichteten Himalayan Mountaineering Institute ernannt. | |
| Im Jahr 1954 gründete er zudem die Sherpa Climber’s Association, seine | |
| Kinder besuchten die besten Schulen. | |
| ## Dose Kondensmilch als Geschenk | |
| Mit Edmund Hillary verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Doch einzig | |
| der Neuseeländer wurde von der Queen zum Ritter geschlagen, Tenzing erhielt | |
| nur die George-Medaille, die zweithöchste zivile Auszeichnung | |
| Großbritanniens. Als das Königshaus Tenzing und seine Familie nach London | |
| eingeladen hatte, fragte die Queen Angh Lamu, wie sie auf den Erfolg ihres | |
| Ehemannes reagiert habe. „Ich habe ihm ein Geschenk gekauft“, sagte sie. | |
| Welches, wollte die Queen wissen. „Eine Dose Kondensmilch“, sagte Angh | |
| beschämt. | |
| Tenzing Norgay blieb bis 1976 Leiter des Mountaineering-Instituts. Im Alter | |
| von 62 Jahren musste er dann gegen seinen Willen den Posten räumen. Er fing | |
| an zu trinken und wurde, wie sein Enkel Tashi Tenzing berichtet, „immer | |
| desillusionierter und unglücklicher“. Einmal, in den 1990er-Jahren, fand im | |
| Institut eine Konferenz europäischer und amerikanischer Bergsteiger statt, | |
| die sich über ihre Himalajaerfahrungen austauschten. Plötzlich brach es aus | |
| zwei anwesenden nepalesischen Bergführern heraus: „Was ist mit uns? Weshalb | |
| sprecht ihr nur über euch? Ohne die Sherpas hättet ihr das nie erreicht.“ | |
| Als Edmund Hillary im Jahr 2008 starb, [4][war es der taz einen Nachruf | |
| wert]. Tenzing Norgay Sherpa starb 1986 im Alter von 72 Jahren in | |
| Darjeeling, das wurde nur von wenigen europäischen Zeitungen vermeldet. | |
| 29 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
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