| # taz.de -- Film „A Thousand and One“: So Real wie das wahre Leben | |
| > Ein Porträt von Harlem zeichnet der Film „A Thousand and One“. A. V. | |
| > Rockwell erzählt von einer jungen Frau, die sich ein neues Leben aufbauen | |
| > muss. | |
| Bild: Inez de la Paz (Teyana Taylor) und Terry (Aaron Kingsley Adetola) | |
| Als Inez (Teyana Taylor) 1994 aus dem Gefängnis entlassen wird, steht sie | |
| vor dem Nichts. Sie hat keinen Job, keine Unterkunft und keine Familie, die | |
| ihr über die Runden helfen könnte. Die schmerzlichste Leerstelle in ihrem | |
| Leben aber ist das Fehlen jeder Aussicht auf Besserung. | |
| Doch wo keine Perspektiven sind, müssen Perspektiven geschaffen werden: Die | |
| Suche danach beginnt für die 22-Jährige mit der Suche nach Terry (Aaron | |
| Kingsley Adetola). Sie fragt in der Nachbarschaft nach ihrem sechs Jahre | |
| alten Sohn und findet heraus, dass er nach einem Unfall in der | |
| Pflegeunterbringung eines Krankenhauses ist. | |
| Kurzerhand entführt sie ihn. Die Behörden suchen daraufhin zwar nach dem | |
| Jungen, doch das Spielfilmdebüt von A. V. Rockwell setzt – anders als es | |
| die Prämisse vermuten lässt – nicht zu einer actionreichen Fluchtgeschichte | |
| an. Stattdessen fokussiert sich das beim diesjährigen Sundance Film | |
| Festival mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Drama ganz auf Inez’ enormen | |
| Eifer, ein stabiles Zuhause für sie beide zu schaffen. | |
| „A Thousand and One“ heischt dabei weder nach Mitleid noch verklärt die | |
| Regisseurin und Drehbuchautorin Rockwell ihre Protagonistin zur abgebrühten | |
| Heldin, die mit tadelloser Entschlossenheit allen Widrigkeiten trotzt, die | |
| sich ihr als Schwarze Frau in den Weg stellen. Was den Film so ergreifend | |
| macht, ist gerade das Fehlen derartiger dramatischer Übertreibungen und | |
| künstlicher Überhöhungen. „A Thousand and One“ überzeugt durch den Bann… | |
| Echten. Um dem beizukommen, nimmt sich das Drehbuch angenehm viel Zeit und | |
| sucht nach dem Vielsagenden im Alltäglichen. | |
| ## Protokoll der Stadtpolitik | |
| Es dauert eine Weile, bis sich Inez dazu durchringen kann, ihren Pflichten | |
| als Mutter nachzukommen. Doch auch nachdem sie, wider ihren Wunsch als | |
| Friseurin zu arbeiten, eine Stelle als Putzkraft angenommen hat, eine | |
| Wohnung in Harlem finden und Terry mit gefälschten Papieren zurück zur | |
| Schule schicken konnte, bleibt das beständige Auf und Ab zentrale Conditio | |
| des Films. Sowohl in der Beziehung zu ihrem Sohn, als auch im Hadern mit | |
| dem finanziellen Überleben und im Versuch, dabei noch ein wenig | |
| persönliches Glück zu finden. | |
| Letzteres sucht Inez unter anderem in der Beziehung zu Lucky (Will | |
| Catlett), der wie sie im Gefängnis saß und Terry zumindest ein wenig zum | |
| Vater wird. | |
| Von der Entwicklung der Familie erzählt A. V. Rockwell mithilfe mehrerer | |
| Zeitsprünge, eingebettet in den Wandel, der um die Familie herum | |
| stattfindet. „A Thousand and One“ ist damit mindestens so sehr ein | |
| dokumentarisch anmutendes Protokoll der Veränderungen, [1][die Harlem bis | |
| zur Mitte der 2000er Jahre durchlebte,] wie ein liebevolles Porträt seiner | |
| Einwohner. | |
| Um zu verdeutlichen, wie sehr das Schicksal der mehrheitlich Schwarzen | |
| Bevölkerung mit dem berühmt-berüchtigten New Yorker Stadtteil verwoben ist, | |
| ist jedem Kapitel ein Zusammenschnitt mit Aufnahmen aus der Weltmetropole | |
| vorangestellt. Wie im Rest des Films bestechen die ausgesprochen | |
| ästhetischen Bilder durch typisches Zeitkolorit und sind mit Reden der | |
| jeweiligen Bürgermeister, zunächst Rudy Giulianis und später Michael | |
| Bloombergs, unterlegt. | |
| Wie deren Politik wahlweise rassistische Polizeigewalt verstärkte oder die | |
| Gentrifizierung vorantrieb, lässt die Filmemacherin ohne viel Aufsehen und | |
| damit umso wirkmächtiger in die Handlung einfließen. Mal wird der dann | |
| 13-jährige Terry (Aven Courtney) ohne Anlass aufgehalten und durchsucht. | |
| Später stellt sich ein neuer Eigentümer bei Inez vor, der zunächst | |
| freundlich umfangreiche Reparaturen in der heruntergekommenen Wohnung | |
| anbietet, sie eigentlich aber nur hinausekeln möchte. | |
| ## Die eigene Stärke finden | |
| Wie viel effektvoller das Subtile bisweilen sein kann, verdeutlicht auch | |
| die Art und Weise, mit der A. V. Rockwell das Wesentliche an ihrer | |
| Protagonistin herausarbeitet. In einem besonders leisen Moment nämlich, in | |
| dem die bislang hauptsächlich als Sängerin bekannte Teyana Taylor zu | |
| schauspielerischer Höchstform aufläuft: Nach einer weiteren Niederlage | |
| zeigt die Kamera nicht mehr als ihr Gesicht, das vom Fernseher vor ihr | |
| erleuchtet wird. | |
| Tränen laufen über ihre Wangen, während sie lustlos Instantnudeln in sich | |
| hineinstopft. Dann erzählt eine Talkshow-Teilnehmerin davon, dass es zuerst | |
| darauf ankomme, in sich selbst einen Freund zu haben. Denn letztlich, das | |
| habe sie das Leben gelehrt, wird sich niemand um dich kümmern – außer du | |
| selbst. Als Inez diese Worte hört, verändert sich ihr Ausdruck, er wird | |
| kämpferisch-trotzig. So als habe diese Erinnerung an ihre eigene Stärke | |
| gereicht, um weiterzumachen. | |
| „A Thousand and One“ gelingt es, die ambivalenten Folgen ihrer | |
| eigenständigen Haltung zu zeigen: Terry, dessen Perspektive der Plot mit | |
| Voranschreiten immer stärker einnimmt, wächst zu einem klugen und | |
| empathischen Teenager (Josiah Cross) heran. Allerdings wird seine Welt | |
| durch Inez’ kompromisslose Autonomie erneut aus den Angeln gehoben werden. | |
| Wie unverzichtbar gleichsam die Hoffnung ist, dass es letztlich zumindest | |
| gut genug werden wird, ist vielleicht der Gedanke, der von diesem | |
| erstaunlichen Debüt am Kraftvollsten zum Ausdruck gebracht wird. | |
| 22 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
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