| # taz.de -- Die Blut-Hirn-Schranke überwinden: Durchfluss verboten | |
| > Die Blut-Hirn-Schranke schützt das Gehirn vor Bakterien. Aber sie macht | |
| > es auch Medikamenten schwer. Forscher*innen testen neue Wege. | |
| Bild: Behandlungen des Gehirns scheitern oft genau an dem Mechanismus, der uns … | |
| Das Gehirn ist ein hochempfindliches Gebilde, das nur unter ganz bestimmten | |
| Bedingungen funktioniert. Es muss mit Sauerstoff versorgt und entsprechend | |
| gut durchblutet werden. Aber im Blut schwimmen noch viele andere Dinge, | |
| etwa Hormone oder Stoffwechselprodukte, die nicht in das zentrale | |
| Nervensystem gelangen sollen. Deswegen gibt es die Blut-Hirn-Schranke: eine | |
| Barriere aus eng aneinander liegenden Zellen der Blutgefäßwände. Zu ihr | |
| gehören auch Membranproteine, die aktiv verhindern, dass Fremdstoffe | |
| eindringen, und notfalls auch Substanzen wieder heraustransportieren | |
| können. Die Schranke durchzieht auch das Rückenmark und hat bei einem | |
| durchschnittlich großen Erwachsenen eine Fläche von 12 bis 18 Quadratmeter. | |
| Funktioniert diese Barriere nicht mehr ordentlich, geraten die | |
| [1][Nervenzellen aus dem Gleichgewicht]. Es können sich Blutungen und | |
| Entzündungen bilden. Bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose, Epilepsie und | |
| Schlaganfällen wird die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger. Auch bei der | |
| [2][Parkinson-Erkrankung], bei Gehirntumoren, [3][Alzheimer] und weiteren | |
| Störungen des zentralen Nervensystems kann sie eine Rolle spielen. | |
| Trotzdem suchen gerade mehrere Forschungsteams nach Wegen, die | |
| Blut-Hirn-Schranke zu durchbrechen. Warum das? | |
| So unentbehrlich sie ist, macht es die Barriere schwer, Medikamente in das | |
| Gehirn zu bekommen. Behandlungen scheitern daher oft genau an dem | |
| Mechanismus, der uns sonst schützt. | |
| ## Viele Forschungsansätze | |
| Einen Ansatz dafür beschreibt ein [4][spanisch-japanisches Team in der | |
| Fachzeitschrift Science Advances]. Sie nutzten eine Ultraschall-Methode, um | |
| die Blut-Hirn-Schranke für kurze Zeit durchlässig zu machen. Zunächst | |
| probierten sie es an Javaneraffen: Sie visierten ganz gezielt | |
| Gehirnregionen an, die mit der Parkinson-Erkrankung zusammenhängen und in | |
| die sie nun grün markiertes Virus mit einer angehängten Gentherapie | |
| einschleusen wollten. Der Ultraschall brachte dabei mit geringer Frequenz | |
| winzige Bläschen in den Blutgefäßen zum Schwingen, was wiederum die engen | |
| Verbindungen zwischen den Gefäßzellen lockert und sie durchlässiger machte. | |
| So konnten die Viren und somit die Gentherapie aus dem Blut ins Gehirn | |
| gelangen. Auf ähnliche Weise behandelten die Forschenden daraufhin drei | |
| Parkinson-Patienten. Die Hoffnung dabei war, die Therapie auf möglichst | |
| wenig invasive Art in die betroffenen Zellen zu bekommen. | |
| Zunächst einmal sollte die Studie zeigen, dass die Methode machbar und | |
| sicher ist. Von einer klinischen Zulassung ist sie damit aber noch weit | |
| entfernt und technisch längst nicht perfekt, erklärt Regine Heilbronn, | |
| Leiterin der Arbeitsgruppe Gentherapie an der Klinik für Neurologie der | |
| Charité Berlin. Anhand der grünen Markierungen kann man sehen, wie viele | |
| der Viren es bis ins Hirn geschafft haben. Die sichtbare Verstärkung dort | |
| sei allerdings nur gering – „viel zu gering, um darauf hoffen zu können, | |
| dass therapeutische Gene zum Beispiel bei Parkinson funktionell wirksam | |
| würden“. Insgesamt hält Regine Heilbronn die Methode für interessant, nun | |
| müsse sie aber technologisch weiterentwickelt werden und eine Überlegenheit | |
| gegenüber etablierten Gentherapie-Verfahren zeigen. | |
| Ultraschall wird derzeit noch in [5][verschiedenen] [6][anderen] | |
| Forschungsgruppen untersucht. Im Detail unterscheiden sich die Studien ein | |
| wenig, auch das Ziel ist nicht das gleiche, aber letztendlich geht es immer | |
| darum, irgendetwas ins Gehirn hineinzubekommen. | |
| Daneben gibt es noch eine Reihe anderer Ansätze, um Medikamente über die | |
| Blut-Hirn-Schranke zu schleusen. [7][Der amerikanische Forscher Edward A. | |
| Neuwelt] etwa nutzt dafür eine hochkonzentrierte Zuckerlösung, die er in | |
| die Halsschlagader injiziert. Dadurch ziehen sich die Gefäßzellen zusammen, | |
| ihre Verbindungen öffnen sich und gleichzeitig verabreichte Medikamente | |
| können in das Gehirn gelangen. Das funktioniert zwar recht gut, hat aber | |
| deutliche Nachteile, erklärt Prof. Dr. Gert Fricker, Direktor des Instituts | |
| für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie an der Universität Heidelberg: | |
| „Die Zuckerlösung öffnet die Blut-Hirn-Schranke nicht gezielt an einer | |
| bestimmten Stelle, sondern praktisch überall, wo sie hingelangt.“ | |
| Zwar schließe sich die Barriere nach einigen Stunden wieder von selbst, | |
| doch in dieser Zeit könnten auch andere Substanzen und Proteine aus dem | |
| Blut in das Gehirn gelangen. Daher gebe es häufig unerwünschte | |
| Nebenwirkungen wie Lähmungen, Ausfälle der kognitiven Leistungen und | |
| Sprachstörungen. Allerdings, so Fricker, nehme man das Risiko etwa bei | |
| Tumorpatient:innen in Kauf, die sonst kaum noch Optionen haben. | |
| Sicherer wäre es jedoch, die Blut-Hirn-Schranke intakt zu lassen und die | |
| Medikamente anders einzuschleusen. Auch das wird erforscht, mithilfe der | |
| aktiven Transportmechanismen über die Barriere. [8][Auf den Zellen befinden | |
| sich Andockstellen], sogenannte Rezeptoren. Bindet eine passende Substanz | |
| daran, werden diese Rezeptoren mitsamt Anhang in die Zelle aufgenommen und | |
| auf der anderen Seite wieder freigelassen. Die Herausforderung ist nun, die | |
| Medikamente so zu verpacken, dass sie an die Andockstellen binden können. | |
| Beispielsweise kann man [9][winzige Päckchen] schnüren, die wiederum an | |
| Substanzen gebunden werden, die von Natur aus an die Rezeptoren passen. | |
| Oder man nutzt [10][Antikörper], welche die Andockstellen erkennen. | |
| Generell ist dabei wichtig, dass die Päckchen sich an ihrem Zielort | |
| möglichst schnell auflösen und den Wirkstoff freisetzen. | |
| All das sind vielversprechende Methoden, die jeweils ihre vor- und | |
| Nachteile haben. „Wenn die Blut-Hirn-Schranke nicht beschädigt wird, kann | |
| das Verfahren auch mehrfach hintereinander und auf längere Zeit eingesetzt | |
| werden“, sagt Gert Fricker. Das sei etwa bei Alzheimer- oder | |
| Parkinson-Erkrankungen hilfreich, wo eine Behandlung vielleicht jeden | |
| zweiten Tag nötig wäre. Techniken, bei denen die Blut-Hirn-Schranke | |
| zeitweise geöffnet wird, bieten sich mit Blick auf die Risiken eher für | |
| eine einmalige Anwendung an, wie etwa einer Tumorbehandlung. | |
| ## Langwierige Zulassung | |
| Obwohl viele Möglichkeiten untersucht werden und das Thema medizinisch | |
| bedeutend ist, hat es bisher keine dieser Methoden bis zu einer amtlichen | |
| Zulassung geschafft. Dafür bedarf es großer klinischer Studien: Davon gibt | |
| es derzeit mehrere, einige davon auch schon recht weit fortgeschritten. | |
| Dennoch dauert so ein Zulassungsprozess Jahre bis Jahrzehnte. | |
| Zudem geht die Forschung weiter: Besonders wichtig sei die Optimierung der | |
| Methoden. Zum Einschleusen der Medikamente gibt es noch weitere | |
| Ansatzpunkte. „Daran wird auch in der Industrie intensiv gearbeitet“, sagt | |
| Gert Fricker. Allein das [11][Interesse der Pharmaindustrie] zeigt bereits | |
| das Potenzial erfolgreicher Studien: Sollte es Zulassungen für erfolgreiche | |
| Methoden geben, wären die Entwicklungsmöglichkeiten für die Unternehmen | |
| vielfältig. Und auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung | |
| beteiligt sich an dem Thema und fördert verschiedene Projekte, die entweder | |
| die [12][Barriere überwinden] oder aber allgemein die | |
| [13][Blut-Hirn-Schranke besser verstehen] wollen. Einen Durchbruch gibt es | |
| bisher nicht, aber wahrscheinlich wurde noch nie aus so vielen Perspektiven | |
| auf das Problem geschaut. | |
| 20 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://rupress.org/jem/article/217/4/e20190062/151582/The-blood-brain-barr… | |
| [2] /Behandlung-von-Parkinson/!5922911 | |
| [3] /Forschung-fuer-Alzheimer-Medikamente/!5814290 | |
| [4] https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adf4888 | |
| [5] https://www.thelancet.com/journals/lanonc/article/PIIS1470-2045(23)00112-2/… | |
| [6] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10159364/ | |
| [7] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9307096/ | |
| [8] https://fluidsbarrierscns.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12987-020-002… | |
| [9] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0169409X2300176X | |
| [10] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33241587/ | |
| [11] https://www.roche.de/unternehmen/stories/antikoerper-gegen-das-vergessen | |
| [12] https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/die-rolle-der-blut-hirn-schran… | |
| [13] https://www.uniklinik-freiburg.de/presse/pressemitteilungen/archiv-2017/de… | |
| ## AUTOREN | |
| Stefanie Uhrig | |
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