| # taz.de -- Essayfilm über drohende Wasserprobleme: Die Flut kommt | |
| > Philipp Hartmann lässt in „Virar Mar – Meer Werden“ Dithmarschen | |
| > untergehen. Und den Sertão in Brasilien lässt er vertrocknen. | |
| Bild: Das alte Meer und der Mensch: Schleswig-Holsteins Nordseeküste verlagert… | |
| Die große Flut hat begonnen: Ganz Dithmarschen wird unter Wasser gesetzt, | |
| weil die Deiche sonst vom steigenden Meeresspiegel überschwemmt werden. Der | |
| gesamte Landkreis wird evakuiert. Nur ein sturer alter Musiker weigert | |
| sich, seine Hütte zu räumen. Stattdessen spielt er noch einmal Bach auf der | |
| Orgel der verlassenen Dorfkirche. Ein Engel erscheint, um ihm die Noten | |
| umzublättern. Aber auch der himmlische Bote trägt Gummistiefel. | |
| Den Film würden Sie gerne sehen? Nun am [1][Donnerstag ist das im Hamburger | |
| B-Movie möglich]. Denn gedreht hat ihn der Hamburger Filmemacher Philipp | |
| Hartmann – komplett mit Radioansagen, die vom politischen Streit zwischen | |
| Kiel und Berlin über die kontrollierte Landaufgabe erzählen und dem | |
| Kontrollpult des Wasserwerks Odderade in Süddithmarschen, an dem die | |
| Fluttore für die Überschwemmung geöffnet werden. | |
| Diese Sci-Fi-Handlung ist allerdings verborgen in einem Essayfilm, der | |
| nicht nur in Norddeutschland, sondern auch [2][im brasilianischen Sertão] | |
| gedreht wurde. Hartmann hat in ihn all das hineingepackt, was ihm zum Thema | |
| Wasserprobleme in der nahen Zukunft so eingefallen ist. Während es an den | |
| Küsten von Norddeutschland wohl bald zu viel Wasser geben wird, trocknet | |
| der Sertão seit Langem immer mehr aus. | |
| Schon vor vielen Jahren wurden dort Stauseen angelegt. Wie im dystopischen | |
| Dithmarschen mussten auch hier Menschen dafür ihre Dörfer verlassen. Selbst | |
| diese Reservoirs sind indes inzwischen ausgetrocknet: Das Land wird zur | |
| Wüste. Hartmann weiß dies: Er hat seine Doktorarbeit über „ökonomische | |
| Mechanismen in der Wasserpolitik Brasiliens“ geschrieben. So war es für ihn | |
| naheliegend, anhand dieser zwei Kulturlandschaften vom drohenden | |
| Zusammenbruch des natürlichen Wasserkreislaufs zu erzählen. | |
| Im Sertão hat er dafür mit seinem brasilianischen Kollegen Danilo Carvalho | |
| zusammengearbeitet. Die brasilianischen Teile des Films sind mehr | |
| dokumentarisch: Da sieht man, wie Trinkwasser verkauft wird, wie in einem | |
| ausgetrockneten Stausee die früheren Bewohner durch ihr Dorf spazieren, von | |
| dem nur noch die Grundrisse der Häuser erkennbar sind, und eine Gruppe von | |
| jungen Frauen singt ein Lied, das von der Sehnsucht nach einem Land mit | |
| viel Wasser handelt. | |
| Musik und Kultur im Allgemeinen spielen eine große Rolle in diesem Film: | |
| Viele der Protagonist*innen sind Kulturschaffende. So spielt in einem | |
| Wald in Schleswig-Holstein eine Frau wie eine Fee auf verschiedenen | |
| Holzflöten im Wald, in Brasilien läuft eine Blaskapelle durchs Bild und | |
| Amateurschauspieler*innen führen Bühnenadaptionen von Theodor Storms | |
| Novelle „Der Schimmelreiter“ auf. Und zwar sowohl in Dithmarschen als auch | |
| im Sertão. Dort traf sich Hartmann mit einer Gruppe des örtlichen | |
| „Volkskinos“, die ein paar Szenen aus einer brasilianischen Bühnenadaption | |
| des Buches mit dem Titel „O Centauro Bronco“ für ihn inszenierte. | |
| Ist dieser Film nun dokumentarisch oder fiktional? Hartmann springt ständig | |
| zwischen beiden Ebenen hin und her, sodass der Film im besten Sinne des | |
| Wortes ein Hybrid ist: Dokumentarisch sind die Aufnahmen von verdorrten | |
| Landschaften in Brasilien, dokumentarisch auch die Bilder von einem | |
| monsunartigen Sturzregen auf dem Marktplatz von Heide. Und für einen | |
| kleinen Gag ist Hartmann an die Ostsee nach Schönberg gefahren, um dort das | |
| Schild vom Ortsteil „Brasilien“ aufzunehmen. | |
| Sein etwas schräger Humor scheint auch durch, wenn er am Anfang des Films | |
| den Fährmanns Charon, der in der griechischen Mythologie die Toten über den | |
| Fluss Styx ins Jenseits bringt, auf einer Fähre über den Nord-Ostsee-Kanal | |
| auf einen knurrigen Norddeutschen treffen lässt, der ihn mit einem eher | |
| missmutigen „Moin“ begrüßt. | |
| Essayfilme wie dieser, die eher einer assoziativen Dramaturgie folgen, sind | |
| meist sperrig, weil es für das Publikum anstrengend ist, zu durchschauen, | |
| was da gerade warum gezeigt wird. Doch „Virar Mar – Meer werden“ ist zwar | |
| stilistisch anspruchsvoll, aber dabei auch immer unterhaltsam und klar in | |
| seiner Aussage. Bei all der Sammlerfreude, mit der er seine filmischen | |
| Fundstücke und Ideen präsentiert, verliert Hartmann nämlich sein Thema nie | |
| aus dem Auge: Wenn das Wasser kommt, muss der Mensch weichen. Wenn es geht, | |
| auch. | |
| 18 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.b-movie.de | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Sert%C3%A3o | |
| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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