# taz.de -- Gewalt in Haiti: „Taliban“ kontrollieren das Land | |
> Die Menschen Haitis leiden unter Brutalität von Banden. Hinter den Gangs | |
> stehen Politiker - und eine gescheiterte, ausländische Intervention. | |
Bild: In Port-au-Prince werden Macheten an Bewohner*innen verteilt – zum Schu… | |
BERLIN taz | Eine von circa 300 bewaffneten Gruppen, die die haitianische | |
Hauptstadt Port-au-Prince fast vollständig kontrollieren, nennt sich „Die | |
Taliban“. Haiti hat weder mit dem Islam noch mit seiner verzerrten Version | |
der afghanische Theokratie irgendeine Verbindung. Zwei mögliche Erklärungen | |
gibt es. Haiti gehört genauso wie Afghanistan zu den No-go-Zonen, die die | |
noch unter westlicher Hegemonie errichtete Weltordnung nach anfänglichen | |
fast euphorischen Bemühungen unbefriedet zurückgelassen hat. | |
[1][In Haiti standen ab 2004 13 Jahre lang UN-Truppen], um das Land | |
sicherer zu machen. Damals wurden zwei Gangs im Elendsviertel Cité Soleil | |
bekämpft. 20 Jahre später reden wir von mehreren hundert bewaffneten | |
Gruppen. Das Ziel der UN-Mission, Haiti nach dem Erdbeben 2010 besser | |
wieder aufzubauen, ist genauso wenig erreicht worden wie die Befreiung der | |
Frauen in Afghanistan. | |
Der zweite Grund für die erstaunliche Namenswahl der Bewaffneten dürfte in | |
der Tatsache liegen, dass sie genauso wie die echten Taliban zu den Parias | |
der Welt gehören. Sie sind sich dessen, wie man sieht, wohl bewusst. Sie | |
fordern nicht nur die Haitianer*innen, sondern die ganze Welt heraus. | |
## UN-Sicherheitsrat sanktioniert Gang-Mitglieder | |
Die Welt tagte in Gestalt des Sicherheitsrats der UNO im Oktober letzten | |
Jahres zu Haiti. Damals waren eine akute Hungersnot, ein Cholera-Ausbruch | |
und die Besetzung der zwei Häfen durch Gangs der Ausgangspunkt, die damit | |
die gesamte Einfuhr von Öl, der einzigen Energiequelle des Landes, unter | |
ihrer Kontrolle hatten. Nach vielen Debatten beschloss der | |
UN-Sicherheitsrat die Sanktionierung von Gang-Mitgliedern und haitianischen | |
Politiker*innen, die mit ihnen in Verbindung stehen. Tatsächlich haben | |
seither ehemalige politische Vertraute der USA Schwierigkeiten, an ihre | |
Gelder im Ausland zu gelangen oder in die USA auszureisen. | |
Eine von UN-Generalsekretär António Guterres geforderte Interventionstruppe | |
kam nicht zustande. Das lag nicht nur an den Bedenken von Russland und | |
China. Es findet sich einfach kein Land, das bereit wäre, noch einmal eine | |
von der UNO gedeckte Interventionstruppe in Haiti anzuführen. Die USA | |
verweigern sich und bitten seit Monaten inständig Kanada, das Unternehmen | |
zu beginnen. Aber auch Kanada will nicht. Zu gefährlich und zu langwierig. | |
Trotzdem forderte Guterres angesichts der jüngsten Meldungen aus Haiti | |
wieder eine internationale Militärintervention. | |
## Gewaltspirale in Haiti seit Januar | |
Die jüngsten Ereignisse zeigen, warum niemand daran glaubt, dass eine von | |
außen geführte Militärintervention erfolgreich sein könnte. Vor wenigen | |
Tagen verübten Bewohner in Canapé-Vert, einem bessere Viertel in der Region | |
Port-au-Prince, einen Lynchmord an 13 mutmaßlichen Gang-Mitgliedern. Die | |
Polizei hatte die bewaffneten Männer zuvor festgenommen und der | |
aufgebrachten Bevölkerung überlassen. Sie steinigten sie und zündeten sie | |
mit brennenden Autoreifen an. | |
Der haitianische Menschenrechtsanwalt Gédéon Jean sieht darin ein Zeichen: | |
„Heute hast du eine Bevölkerung, die sich selbst organisiert, um Recht | |
auszuüben – [2][aber auch Gangs, die Rache üben wollen und die Bevölkerung | |
angreifen werden].“ Auch die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH | |
(Reseau National de Défense des Droits Humains) berichtet, dass | |
Bewohner*innen immer wieder versuchen, ihre Viertel zu verteidigen. Das | |
aber führt zu schlimmsten Reaktionen der Gangs. | |
Wie sehr diese Gewalt vollends außer Kontrolle geraten ist oder es doch | |
politische Kräfte in der haitianischen Elite gibt, die sie nach wie vor | |
gezielt fördern, ist die große Streitfrage in Haiti. RNDDH schreibt in | |
seinem Bericht, dass die Regierung unter Ariel Henry keinerlei Maßnahmen | |
unternehme und eine „Politik des Schweigens“ betreibe. Sie habe sogar | |
polizeilich Maßnahmen zur Eingrenzung der Gangs auf bestimmte Viertel | |
aufgegeben und zugelassen, dass es nirgendwo mehr sichere Zonen gebe. | |
Dass haitianische Politiker mit Gangs verknüpft sind, ist seit Diktator | |
François Duvalier keine Neuigkeit. Er betrieb mit Toton Macoutes eine | |
furchterregende paramilitärische Gruppierung gegen die Opposition und | |
regierte mit derer Hilfe als Dynastie 50 Jahre. Auch unter dem linken | |
Befreiungstheologen Jean-Bertrand Aristide kamen Gangs zum Einsatz. | |
[3][Unter dem mittlerweile ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse] begann | |
eine neue Form von gewalttätigen Massakern. Sie brachten eine große | |
transnationale Bewegung zur Beendigung der Korruption 2018 zum Schweigen. | |
Mit dem Ende dieser Bewegung verschwand der Bericht des Parlaments, der | |
einzelnen Politikern Misswirtschaft mit Erdbebengeldern nachwies. Es kam | |
nie zur Gerichtsverhandlung. | |
## Die Flucht als letzte Überlebensmöglichkeit | |
Mittlerweile hat der Oberste Gerichtshof keine Richter mehr. Das Parlament | |
ist aufgelöst, weil keine Neuwahlen stattfanden. Dasselbe gilt für den | |
Senat. Bis auf den Ministerpräsidenten Ariel Henry, der nach der Ermordung | |
von Moïse mit Zustimmung der für Haiti entscheidenden Core-Group aus UNO, | |
USA, Kanada, EU, Frankreich und Deutschland eingesetzt wurde, gibt es keine | |
legale staatliche Repräsentanz. | |
Henry wiederum genießt keine Unterstützung im Land und ruft jedoch nach | |
einer ausländischen Militärintervention, die ihn offenkundig an der Macht | |
halten soll. Deutlich ist, dass es keine Idee gibt, wie man solche | |
Polykrisen wie in Haiti befrieden kann. Die Idee, man könne solche | |
No-go-Zonen von ferne verwalten und einhegen, wird jedenfalls nicht | |
funktionieren. Finanzielle, politische und militärische Interventionen sind | |
an der ausweglosen Lage Haitis beteiligt. | |
Haitianer*innen versuchen auf allen möglichen Wegen zu fliehen. Es ist | |
die letzte verbliebene Überlebensmöglichkeit. Doch auch das wird immer | |
schwieriger. [4][US-Präsident Biden hatte zu Beginn seiner Amtszeit mit | |
zweifelhafter rechtlicher Begründung Tausende Haitianer*innen], die es | |
in die USA geschafft hatten, zurückdeportiert. Das Nachbarland | |
Dominikanische Republik plant eine Mauer von mehreren Metern Höhe entlang | |
der 300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze und will den Zuzug völlig | |
unterbinden. Das wird die Migration nicht stoppen, aber ihre Bedingungen | |
noch gefährlicher machen. | |
16 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katja Maurer | |
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