# taz.de -- Gesundheitspolitiker über Chemikalien: „Allerhöchste Zeit für … | |
> Ewigkeitschemikalien sind ungesund, jetzt steht ein Verbot der | |
> sogenannten PFAS an. Politiker und Mediziner Armin Grau erklärt, warum es | |
> dringend ist. | |
Bild: Immer noch ein typisches Einsatzgebiet von Ewigkeitschemikalien: Beschich… | |
wochentaz: Herr Grau, wo kann ich in Deutschland leben, wenn ich nicht mit | |
Ewigkeitschemikalien in Berührung kommen möchte? | |
Armin Grau: Nirgendwo. Auf der ganzen Erde nicht. Selbst in der Arktis | |
findet man inzwischen Rückstände von Ewigkeitschemikalien. Es gibt | |
aber Hotspots, wo die Konzentration im Boden oder im Wasser besonders hoch | |
ist. Sie können also an besonders ungünstigen Stellen leben. | |
Ewigkeitschemikalien – das klingt so poetisch. | |
Tatsächlich sind das vom Menschen gemachte, nicht in der Natur vorkommende | |
Stoffe, die sich so langsam abbauen – das ist gar nicht messbar. Deswegen | |
ist der Begriff Ewigkeitschemikalien schon passend. | |
Was genau sind das für Stoffe? | |
Es geht um sogenannte PFAS, per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen. Das | |
sind Kohlenstoffketten, bei denen die Wasserstoffatome ganz oder teilweise | |
durch Fluoratome ersetzt wurden. Und diese Kohlenstoff-Fluor-Verbindungen | |
sind extrem stabil. | |
Wie klar ist inzwischen, dass diese Ewigkeitschemikalien | |
gesundheitsschädlich sind? | |
Da gibt es keinen Zweifel mehr. Viele dieser Stoffe stören zum Beispiel das | |
menschliche Hormonsystem. Es gibt gravierende Hinweise darauf, dass sie | |
nicht nur an der Entstehung von Schilddrüsenerkrankungen und Diabetes | |
beteiligt sein, sondern auch zu verringerter Zeugungsfähigkeit führen | |
können. Außerdem können sie das Risiko unter anderem für Hoden- und | |
Nierenkrebs erhöhen. Manche Substanzen sind neurotoxisch, greifen also das | |
Gehirn an und könnten so zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Bei | |
belasteten Tieren zeigt sich das ganz deutlich. Auch höhere | |
Cholesterinwerte und verminderte Wirkungen von Impfungen sind mögliche | |
Folgen. | |
Woher wissen wir, wer besonders gefährdet ist? | |
Bei fast allen bisher untersuchten Menschen wurden PFAS im Blut gefunden, | |
und wir wissen heute, dass bereits ganz niedrige Konzentrationen | |
problematisch sein können. Es gibt Studien aus Deutschland, die zeigen, | |
dass bei über 20 Prozent aller Jugendlichen kritische Grenzwerte | |
überschritten werden. | |
Sind PFAS vor allem für junge Menschen gefährlich? | |
Die besonders vulnerablen Gruppen sind Schwangere sowie Kinder und | |
Jugendliche, die sich noch im Entwicklungsprozess befinden. Es gibt auch | |
Hinweise, dass sich die Auswirkungen einer hohen PFAS-Belastung zum Teil | |
erst in der nächsten Generation zeigen. Das liegt daran, dass diese Stoffe | |
in den Reproduktionsprozess eingreifen können. | |
Wodurch kommen wir in Kontakt mit Ewigkeitschemikalien? | |
Sie werden bereits seit den 1950er Jahren breit verwendet. PFAS sind zum | |
Teil sowohl Wasser als auch Fett abweisend, und das passt ideal in | |
bestimmte Alltagsbereiche: zur Beschichtung von Pfannen, Textilien und | |
Papier zum Beispiel. Die PFAS sind eine vielfältige Gruppe, es gibt | |
Schätzungen, dass über 10.000 Stoffe dazugehören. Manche sind fest, manche | |
flüssig, manche gasförmig. Deshalb können der Mensch und andere Lebewesen | |
sie auch mit der Luft, Nahrung oder Wasser aufnehmen. | |
Die Aufdeckung des Teflon-Skandals Anfang der 2000er (siehe Infokasten) hat | |
gezeigt: Die Hersteller von Produkten, die PFAS enthalten, wissen zum Teil | |
schon seit den Sechziger Jahren, dass es sich dabei um alles andere als | |
harmlose chemische Innovationen handelte. Seit wann ist die Gefahr | |
allgemein anerkannt? | |
Seit den 1990er Jahren sind unsere Erkenntnisse immer breiter geworden. Die | |
Zahl der Studien nimmt deutlich zu. Gerade kürzlich gab es eine | |
amerikanische Studie, die für die Jahre 1999 bis 2015 mit 382.000 | |
zusätzlichen Todesfällen durch PFAS-Belastung rechnet – allein in den USA. | |
Wir wissen jetzt jedenfalls seit vielen Jahren ausreichend Bescheid über | |
die Gefährlichkeit dieser Substanzen, und es ist allerhöchste Zeit für eine | |
Regulierung. | |
PFAS werden bei Teppichen, Outdoor-Textilien, Pfannen, Backformen, | |
Backpapieren und Einwegverpackungen, Zahnseide und Kosmetika verwendet. | |
Aber wenn ich zu Hause auf die Verpackungen schaue, steht dazu nichts. | |
Bisher müssen die Hersteller das tatsächlich nicht deklarieren und das ist | |
der nächste große Punkt, der mir sehr am Herzen liegt. Wir müssen | |
deutschlandweit und europaweit zu einer sehr viel besseren | |
Verbraucherinformation kommen. | |
Noch mal ganz deutlich: Seit mehr als 60 Jahren sind Ewigkeitschemikalien | |
in vielen Alltagsprodukten – und zwar ohne dass deren Unbedenklichkeit | |
jemals nachgewiesen werden musste und ohne dass das auf den Produkten | |
vermerkt werden muss?! | |
Das ist ein ganz grundsätzliches Problem. Wir in Europa sind eigentlich die | |
Vorreiter auf der Welt, was die Regulierung von Chemikalien angeht. Und | |
selbst wir haben uns bisher mit einem mehr oder weniger zahnlosen Tiger | |
zufriedengegeben. Die Einführung der europäischen REACH-Verordnung (Anm. d. | |
Red.: Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals/ | |
Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien) im | |
Jahr 2007 war ein Fortschritt. Aber wir wissen schon seit längerer Zeit, | |
dass das überhaupt nicht reicht. Die Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch | |
unregulierte Chemikalien ist inzwischen so vordringlich, dass keine | |
Verzögerung mehr zu rechtfertigen ist. | |
Glauben Sie, diese Dringlichkeit kommt in der Bevölkerung an? [1][Wir haben | |
Jahrzehnte aus beschichteten Pfannen gegessen], und die meisten machen das | |
weiterhin … | |
Mit einem politischen Stopp können wir zumindest verhindern, dass die | |
bereits in der Umwelt vorhandenen PFAS noch mehr werden. Damit haben wir | |
immer noch jede Menge Rückstände, und unsere Nachkommen werden wohl noch in | |
Jahrtausenden messen können, dass wir im 20. und 21. Jahrhundert dieses | |
Zeug in die Umwelt gebracht haben. Aber dass sich ein Stopp günstig | |
auswirkt, haben Studien schon gezeigt. Dänemark hat zum Beispiel PFAS in | |
Fast-Food-Verpackungen verboten. Das ist sinnvoll, denn es zeigte sich, | |
dass für regulierte PFAS die Rückstände im Blut zurückgingen. | |
Ewigkeitschemikalien, in Fast-Food-Einmalverpackungen. Das ist besonders | |
absurd. | |
Ja, das ist es. Einmal Pommes und dann ewig in der Umwelt. | |
Einzelne PFAS sind [2][aber schon in der EU verboten], oder nicht? | |
Ja, das sind vor allem zwei Stoffe, deren Gefährlichkeit in Studien | |
nachgewiesen wurde. Aber was dann passiert, ist die sogenannte Regrettable | |
Substitution – der bedauerliche Ersatz. Die Hersteller ersetzen den | |
verbotenen Stoff einfach durch einen ähnlichen – wie gesagt, die | |
Stoffgruppe der PFAS ist riesig, und es ist davon auszugehen, dass die | |
meisten dieser Stoffe problematisch sind. Die Wissenschaft braucht dann | |
aber wieder Jahre, um die Schädlichkeit einzelner Stoffe nachzuweisen. | |
Und so lange verdienen die Chemiekonzerne erneut Milliarden mit | |
unregulierten Chemikalien? | |
Wissen Sie, ich bin auch Lokalpolitiker an einem Chemiestandort. Von meinem | |
Krankenhausbüro in Ludwigshafen habe ich zwanzig Jahre auf die BASF | |
geschaut. Das sind 35.000 Arbeitsplätze, mir ist es ein großes Anliegen, | |
dass diese und andere Arbeitsplätze in der Chemie erhalten bleiben. Aber | |
dazu gehört es auch, dass alle produzierten Chemikalien vertrauenswürdig | |
und verträglich sind. | |
Es gab kürzlich ein europaweites Rechercheprojekt, das Hotspots der | |
PFAS-Belastung kartiert hat. Ein roter Punkt zeigt eine nachgewiesene | |
Kontamination. Deutschland ist voll von roten Punkten – an | |
Fabrikstandorten, Flüssen, Feuerwehr-Übungsplätzen … Was bedeutet das für | |
Menschen, die an so einem Hotspot wohnen? | |
Es ist eine Aufgabe für die Kommunen, da jetzt genauer hinzuschauen. Es | |
gibt auch in meinem Wahlkreis einen Spot mit einem sehr hohen Wert. Hier | |
muss sichergestellt werden, dass zum Beispiel das Grundwasser nicht | |
gefährdet wird. | |
Sanieren lassen sich solche kontaminierten Orte nicht? | |
Bisher haben wir keine Technologien dafür. In geringem Maße können PFAS bei | |
sehr hohen Temperaturen verbrannt werden. Aber das eignet sich natürlich | |
nicht für eine breite Anwendung. Es wäre naiv zu sagen, wir können diese | |
Stoffe zeitnah aus der Umwelt kriegen. Auch da müssen wir noch viel mehr | |
Anstrengungen unternehmen, um Lösungen zu finden. | |
PFAS wurden sogar bei [3][Eisbären in der Arktis] nachgewiesen. Wie | |
gelangen sie in die entlegensten Gebiete? | |
Über das Wasser und Nahrungsketten. Vor allem Wildfisch ist zum Teil stark | |
belastet. Und dann der Regen: Es regnet Ewigkeitschemikalien auf uns | |
nieder, auch das ist nachgewiesen. | |
Was ist mit dem Wasser aus dem Wasserhahn? | |
Das wird kontrolliert, und die Grenzwerte werden demnächst massiv runter | |
gesetzt. Wie gesagt, wir wissen ja inzwischen, dass auch sehr niedrige | |
Belastungen problematisch sein können. Ende März hat der Bundesrat eine | |
Änderung der Trinkwasserverordnung auf den Weg gebracht, die ab 2026 | |
greift. | |
Aber wann werden PFAS nun verboten? | |
Deutschland ist neben Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Dänemark | |
eines von fünf Ländern, die einen Antrag für ein europäisches Verbot der | |
ganzen Stoffgruppe bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) | |
eingereicht haben. Dieser Antrag geht jetzt in den normalen europäischen | |
Prozess, eine Beschränkung wird frühestens 2026 in Kraft treten. Unabhängig | |
davon muss die EU-Chemikalienverordnung REACH überarbeitet werden. Ein | |
praktisch fertiger Entwurf der Kommission liegt vor … | |
… und [4][wird von der Wirtschaftslobby blockiert]? | |
Damit die Änderung noch in dieser Amtsperiode des Europaparlaments | |
beschlossen wird, müsste das Verfahren bis Juni auf den Weg gebracht | |
werden. Auch die Bundesärztekammer hat sich für eine entsprechende | |
Beschleunigung ausgesprochen, in einem Brief an Kommissionspräsidentin | |
Ursula von der Leyen, die ja ebenfalls Ärztin ist. Ich hoffe sehr, dass es | |
den Wirtschaftslobbyisten jetzt nicht endgültig gelingt, diesen Prozess zu | |
blockieren beziehungsweise zu verzögern. | |
Selbst wenn das Verbot in Kraft tritt, wird es vermutlich Jahre dauern, bis | |
die PFAS aus unserem Alltag verschwinden. | |
Es gibt Stoffe, die lassen sich sofort ersetzen – in Verpackungen, Kosmetik | |
und Kleidung zum Beispiel. Bei denen gibt es ganz kurze Übergangsfristen, | |
wenn die Beschränkung erst einmal gilt. Andere Anwendungen sind schwieriger | |
zu ersetzen – in der Halbleiterproduktion zum Beispiel, auch bei einigen | |
medizinischen Anwendungen. Da braucht es noch Innovationen. Dort liegt die | |
Übergangsfrist dann bei maximal zwölf Jahren. | |
Auch in Produkten für die Energiewende – Wärmepumpen zum Beispiel – sind | |
PFAS enthalten. | |
Das ist richtig. Und da brauchen wir einen Innovationsbooster nicht nur | |
durch das Verbot und entsprechende Übergangsfristen, sondern auch durch | |
massive Unterstützung der Unternehmen, die moderne Ersatzprodukte | |
entwickeln. Ich befürworte es daher, ein echtes Investitionsprogramm für | |
grüne Chemie in Europa voranzutreiben. | |
Ihr Koalitionspartner FDP hat Sorge, ein generelles Verbot der PFAS könne | |
die Wirtschafts- und Innovationsstandorte Deutschland und Europa schwächen. | |
Ich vertrete eine ganz andere Haltung. Die Fortsetzung der momentanen | |
Politik schwächt uns massiv – die Individuen, die krank werden, die | |
Gesellschaft, die das Vertrauen in die Politik verliert, und langfristig | |
den Wirtschaftsstandort Europa. Innovativ kann nur das sein, was umwelt- | |
und gesundheitsverträglich ist. Es kommt viel auf die Industrie zu, ja. Das | |
ist ein gewaltiger Transformationsprozess. Aber wenn man einmal begriffen | |
hat, wie falsch es ist, mit diesen Substanzen zu arbeiten, dann gibt es aus | |
meiner Sicht keine vertretbare Alternative. | |
16 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /!5910905/ | |
[2] /Schutz-vor-gefaehrlichen-Stoffen/!5847023 | |
[3] /Vergiftete-Gletscher/!5904424 | |
[4] /EU-plant-Ueberarbeitung/!5882412 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
## TAGS | |
Chemikalien | |
Gesundheit | |
Regulierung | |
Gewässerschutz | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Umwelt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ewigkeitschemikalien in den USA: Elf Milliarden für Umweltschäden | |
Der US-Konzern 3M will in einem Rechtsstreit nun Geld bezahlen, weil er für | |
die Verschmutzung von Wasser verantwortlich ist. | |
Umweltverschmutzung von Flüssen: Mein Ökosystem wird zu McDonald's | |
2022 hat eine Lagune in Südspanien Rechte bekommen. Was wäre, wenn auch der | |
Rhein seine Verschmutzer verklagen könnte? Ein Gedankenexperiment. | |
Vergiftete Gletscher: „Auch Menschen gefährdet“ | |
Längst verbotene chemische Verbindungen finden sich inzwischen überall, | |
auch in den Gletschern der Arktis. Experte Zhiyong Xie warnt vor den | |
Folgen. | |
EU-Aktionsplan gegen Verschmutzung: Für eine giftfreie Umwelt | |
Die EU-Kommission hat einen Aktionsplan für saubere Luft, Gewässer und | |
Böden beschlossen. Sie erntet dafür Kritik – und weckt Erwartungen. |