| # taz.de -- Techno-Produzent Tzusing: Next-Level-Getöse in Grün | |
| > „Green Hat“, das brachiale neue Album des US-chinesischen | |
| > Technoproduzenten Tzusing bringt alte Mythen und futuristische | |
| > Klangkulissen in Einklang. | |
| Bild: Tzusing unter Wasser inmitten von Luftblasen mit Hanteln | |
| Die Tang-Dynastie beherrschte zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert das | |
| chinesische Reich sowie Teile Zentralasiens und Nordvietnam als | |
| Kolonialmacht. Die schrecklich-umtriebigen Tangs werden gemeinhin nicht mit | |
| der Entgrenzung auf dem Dancefloor kurzgeschlossen. Bis jetzt, da der | |
| US-chinesische Produzent Tzusing sein Album „Green Hat“ veröffentlicht und | |
| elektronische Tanzmusik mit Gedankengut aus jener fernen Epoche füttert. | |
| Der titelgebende grüne Hut steht in der chinesischen Mythologie symbolisch | |
| für männliche Unzulänglichkeit und geht auf einen Schwank aus dem China des | |
| 9. Jahrhunderts zurück, der vom Poeten Li Yuang Ming handelt. Jener Li hat | |
| seine Frau Cifu wochenlang allein gelassen, um in der Fremde mit | |
| Gleichgesinnten über Poesie zu diskutieren. | |
| Sie sucht und findet derweil Geborgenheit in den Armen eines verwitweten | |
| Nachbars. Der reisende Poet bekommt einen grünen Hut gestickt: Wenn er auf | |
| die Walz geht und bevor er zurückkommt, ist Lis grüner Hut weithin als | |
| Signal sichtbar. Eines Tages überrascht er seine Frau dennoch beim | |
| Seitensprung, die Dorfgemeinschaft nennt fortan den grünen Hut als Sinnbild | |
| für Untreue. Die Farbe Grün und das Kleidungsstück tauchen immer wieder in | |
| den Tracks auf. Mehr noch handelt „Green Hat“ von tragischen Helden, | |
| doppelten Standards und der „komplizierten Geschichte der patriarchalen | |
| Heteronormativität“. Tzusing hat in einem Interview erzählt, dass niemand | |
| in China grüne Hüte trägt, warum wohl. | |
| ## Tradition im Stresstest | |
| Die Musik lässt sich vom konzeptuellen Ansatz nicht beirren. Mit | |
| KI-generierten Stimmen moderiert der Künstler einige der zwölf Tracks an, | |
| kurze Statements über archaische Strukturen, die bis heute Diskurse der | |
| chinesischen Kultur und der chinesischen Diaspora in aller Welt | |
| durchdringen, werden damit gemacht. Tracktitel wie „Idol Baggage“, | |
| „Muscular Theology“ und „Filial Endure Ruthless“ zeigen, dass Tzusing | |
| solche Traditionen einem Stresstest unterzieht und sie zugleich an | |
| westlichen Kulturdiskursen spiegelt. | |
| Das musikalische Fundament ist gewaltig: Blastbeats ziehen eine Grundspur, | |
| wie Stahlpfeiler, die von einer Dampframme durch Teer in den erdigen | |
| Untergrund gebohrt werden. Zersplitternde Soundeffekte begleiten den | |
| subsonischen Megawumms, ständige Snarewirbel und zerfaserte Stimmfragmente | |
| erzeugen spektakelnde Unruhe, als würden Kreissägen im Chor winseln. Dazu | |
| Percussion als feinziseliertes Geklöppel in Fässern, Pfannen und Schüsseln, | |
| es doppelt die Wucht der Musik. | |
| Wenn es die akustische Entsprechung eines Spiegelkabinetts gäbe, Tzusing | |
| könnte sie mit „Green Hat“ hörbar gemacht haben. Im Surroundsound dringt | |
| die Musik auf die Hörer ein, die Anstrengung lohnt. Erkennbar nimmt die | |
| Klangkulisse Anleihen aus Videospielen und bringt Next-Level-Geballer mit | |
| Industrial-Hermetik und Technobanger-Attitude in Unwucht. Tzusings | |
| klaustrophobische und dissonante Herzrasereien klingen nie zu gewollt. | |
| Konsequent bleiern und schroff wird geknirscht und geknarzt, bis 5.000 | |
| Kipplaster auf dem Platz des Himmlischen Friedens synchron Geröllbrocken | |
| abladen. | |
| ## Zick zick, macht die Sense | |
| Beim Track „Residual Stress“ stottert nicht nur der Rasenmäher, auch die | |
| Zick-zick-Geräusche seiner Sensen sicheln rhythmisch beeindruckend mit. | |
| Statt sie klatschen zu lassen, lässt Tzusing dazu Claps prasseln wie | |
| Pfeile. Sind die Claps von der Titelmelodie der ARD-„Sportschau“ zum „Tor | |
| des Monats“ geborgt und hochgepitcht? Tzusing hat in Chicago studiert. | |
| Auch jetzt, wo der gebürtige Malaysier der USA wieder den Rücken gekehrt | |
| hat und zwischen Taipeh und Shanghai pendelt, merkt man dem 40-Jährigen die | |
| musikalische Sozialisation in der Chicagoer Houseszene an. Wer will, kann | |
| eine Verwandtschaft zum Acidhouse eines Jamal Moss ausmachen oder zum | |
| Footworksound, wie er [1][beim Londoner Label Hyperdub] veröffentlicht | |
| wird. Bezugnahme auf fernöstliche Kultur gibt Tzusings Musik die | |
| unverwechselbare Note. | |
| Der Soziologe Ulrich Bröckling hat sich in dem Buch „Postheroische Helden“ | |
| gewundert, dass alles Mögliche „postheroisch“ genannt wird, aber nie von | |
| Postheroen die Rede ist. Tzusing geht einen Schritt zurück und mörsert die | |
| Heroen mit seiner Musik zu Staub. Vielleicht ist ihm beim Produzieren das | |
| heldenhafte Moment zuwider, denn „Green Hat“ wirkt immer wieder, als würde | |
| der Musik alles Metaphysische entweichen, bis nur noch Getöse übrigbleibt. | |
| Zum Überleben reicht das allemal. | |
| 27 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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