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# taz.de -- Debatte über Viertagewoche: Vier Tage zu viel, fünf zu wenig
> Wer von miesen Jobs nicht reden will, sollte von der
> Arbeitszeitverkürzung schweigen. Ein Plädoyer für ein differenziertes
> Verständnis von Tätigkeit.
Bild: Papi gehört immer mir!
Es war im Alter von zwölf Jahren, als ich eine Erfahrung machte, die ich
allen am demokratischen Prozess Interessierten empfehlen kann: bei einer
Abstimmung auf verlorenem Posten zu stehen. Als gewählter Klassensprecher
durfte ich mit darüber entscheiden, ob an unserer Schule der
Samstagsunterricht abgeschafft werden sollte.
Zu Beginn der Diskussion waren auch noch andere aus den unteren Klassen mit
mir der Meinung, es sei besser, alle 14 Tage Samstag früh ein paar Stunden
abzureißen und dafür unter der Woche das dumpfe Gebäude eine Stunde früher
verlassen zu dürfen. Von ihrer Warte nicht minder nachvollziehbar
argumentierten die oberen Klassen, sie wollten am Samstag ausschlafen und
das Wochenende genießen; und ebenso verständlich wollten die tonangebenden
Jungfunktionäre mit einem einstimmigen Ergebnis der Schüler:innen vor
die Gremien treten.
Es war nicht leicht, diesem Druck zu widerstehen, ich zitterte beim finalen
Nein. Meinem kindlichen Ich gebe ich aber heute noch recht: Es ist besser,
die Arbeit über mehrere Tage, am besten über alle sieben, zu verteilen als
sie auf wenige(re) zusammenzupressen, um dann am langen Wochenende komatös
gar nicht erst aus dem Schlafi rauszukommen.
Für mich ist der Sonntagabend zum Beispiel eine sehr gute Zeit zum
Arbeiten; und alle, die Kleinkinder zu Hause haben, wissen, wie erholsam
auf allen Ebenen ein ganzer Tag ohne Abholhetze im Büro ist – [1][im
Bundeswirtschaftsministerium ist man schon weiter und darf auch bei der
Arbeit im Familienkreis bleiben.]
## Ignorant und ungerecht
Abstrakt gesagt muss eine Debatte über Arbeitszeitverkürzung immer auch
eine über Freizeitgestaltung sein. Denn sowenig der Arbeitsplatz ein
politik- und demokratiefreier Ort sein darf, so sehr ist die Idee, in der
Freizeit machten dann eben alle einfach, was sie wollten, naiv; und er ist
ignorant und ungerecht in Bezug auf große Bevölkerungsgruppen: Wer Kinder,
eine zu pflegende Person, professionell zu versorgende Tiere oder – würde
meine Mutter noch sagen – einen Ehemann zu Hause hat, für die ist die
Vier-Tage-Woche nicht mal ein Traum.
Sie widerspricht einem Lauf der Dinge, der nicht einer von oben verordneten
Einteilung gehorchen kann, sondern dem gewiss manchmal brutalen Rhythmus
der Natur sich beugen muss. Es macht nicht immer Spaß, am Sonntagmorgen Heu
für die geliebten Pferde in die Boxen zu schippen oder um sieben in der
Früh auf dem Spielplatz zu stehen, weil das Kind toben möchte und dann der
Nachbar unter einem wieder austickt wegen Kindergetrampel – aber es ist
menschlich.
Karl Marx sah das möglicherweise ähnlich, wenn er den befreiten Menschen
prognostizierte, dem es möglich sei, „morgens zu jagen, nachmittags zu
fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie
ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu
werden“. Ein Wochenende taucht hier ebenso wenig auf wie eine
Viertagewoche. Was daran liegt, dass Marx radikal war – Saskia Esken
hingegen Sozialdemokratin, Yasmin Fahimi DGB-Vorsitzende und Hermann Gröhe
stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag ist.
Die aktuelle Diskussion mit den von diesen und anderen Protagonisten ins
öde Spektakel geworfenen Schlagworten wie „Lohnausgleich“, „Verdichtung …
Arbeitszeit“, „Fachkräftemangel“ und dem unvermeidlichen „Bärendienst…
steril. Wer den Blick weitet, wird um die Erkenntnis nicht herumkommen,
dass Gesellschaften, in denen mehr und anders gearbeitet wird als in
Deutschland – Polen und Italien etwa – nicht unmenschlicher sind, sondern
dynamischer und oft auch menschenfreundlicher.
## Zwangsarbeit und Leerlauf
Es sind nicht die Arbeitsstunden oder Tage entscheidend, die Frage ist, ob
gelebt wird oder eher Leben abgehakt. Zudem geht die aktuelle Diskussion
nicht von den konkreten Menschen aus, die längst gelernt haben, sich dem
Teil ihrer Beschäftigung, der als Zwangsarbeit oder Leerlauf empfunden
wird, zu entziehen, wie kürzlich eine Recherche der Zeit schön dargelegt
hat.
An meinem Arbeitsplatz mahnt mich zur Verbesserung meiner Arbeitsintensität
regelmäßig eine Mail, ich solle jetzt mal aufstehen und „mich auf den
Körper konzentrieren“; wenn ich im Homeoffice bin, lege ich ganz
selbstverständlich zwischendurch die Wäsche zusammen oder räume die
Spülmaschine aus. Das kommt der marxschen Vision deutlich näher als die
Debatte um eine Viertagewoche.
Aber zurück zum Hauptpunkt: Es gibt Arbeiten, die nicht der
Profitmaximierung dienen, sondern die zum Überleben des Einzelnen, seiner
Bezugsgruppe oder auch der Gattung Mensch getan werden müssen. Reden
sollten wir also über all jene elenden und prekären, aber auch über die
überflüssigen oder sogar schädlichen Beschäftigungen, [2][die Shit- und
Bullshit-Jobs], in denen ein Tag die Woche schon zu viel ist.
Eine Gesellschaft, die etwas auf die Würde aller hält, wehrt sich dagegen,
dass Menschen durch Arbeit kaputt gemacht werden. Eine Gesellschaft aber,
die allein in diesem Jahr schon den Tod von 600 Menschen im Mittelmeer
[3][gleichgültig hingenommen] hat, Menschen, die zynischerweise jede
Arbeitszeit dem Tod vorgezogen hätten – die redet eben, was sie am besten
kann: Bullshit, sieben Tage die Woche.
8 May 2023
## LINKS
[1] /Verflechtungen-im-Wirtschaftsministerium/!5931203
[2] /Neues-Buch-von-David-Graeber/!5532911
[3] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3358.html
## AUTOREN
Ambros Waibel
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