| # taz.de -- Hochhaus der landeseigenen Howoge: Eingesperrt wohnen | |
| > Seit zehn Wochen ist der Fahrstuhl in einem 12-stöckigen Wohnhaus kaputt. | |
| > Dabei sind viele Menschen dort darauf angewiesen, weil sie im Rollstuhl | |
| > sitzen. | |
| Bild: Tägliches Schlangestehen am Fahrstuhl: so sieht der Alltag im Haus aus | |
| Berlin taz | Mit dem Schaltknüppel lenkt Karin Wehn geschickt den | |
| Elektrorollstuhl durch ihre Einzimmerwohnung. Draußen auf dem Balkon | |
| scheinen die letzten Lichtstrahlen an die Hauswand. Die Morgensonne ist | |
| längst weitergezogen und damit Karin Wehns Chance, heute noch ein paar | |
| warme Strahlen abzubekommen. | |
| So richtig an der frischen Luft oder ansatzweise in der Natur war Karin | |
| Wehn das letzte Mal vor ganzen zehn Wochen. Ihr Balkon im vierten Stock ist | |
| momentan das Maximum der Gefühle. Denn seit dem 21. Februar konnte sie ihre | |
| Etage nicht mehr verlassen. Seitdem ist der große der zwei Aufzüge ihres | |
| Wohnhauses in der Gitschiner Straße kaputt. Nur in ihn passt ihr Rollstuhl. | |
| Damit ist sie nicht allein. Die blonden Haare fallen Karin Wehn ins | |
| Gesicht, als sie sich über ihre Handtasche auf ihrem Schoß beugt und in ihr | |
| nach der Liste sucht. Sie hat sie gesammelt, die Namen der Betroffenen. | |
| Zehn weitere Hausbewohner*innen hat sie aufgeschrieben. Alle wohnen | |
| wie sie in dem zwölfstöckigen Wohnhaus, und wie sie sind sie seit mehr als | |
| zwei Monaten auf ihren Etagen gefangen. Sie alle sitzen im Rollstuhl und | |
| leiden massiv unter der Einschränkung. | |
| Aber auch dem Rest des Hauses erschwert der kaputte Fahrstuhl das Leben, | |
| viele der Mieter*innen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Lange war | |
| das Haus nahe der U-Bahn-Station Prinzenstraße für Senior*innen | |
| vorgesehen. Auch heute noch ist die Mehrheit der Mieter*innen in den 140 | |
| Wohneinheiten über 65 Jahre alt. | |
| Für die, die einen Rollator brauchen oder altersbedingt weniger ausdauernd | |
| sind, ist Treppensteigen unmöglich. „Regelmäßig bilden sich lange Schlangen | |
| vor dem kleinen Fahrstuhl mit bis zu 20 Minuten Wartezeit“, erzählt Wulf | |
| Niepold, Organisator der Mieter*innentreffs und gute Seele des Hauses. | |
| Seit 2022 ist die Howoge, eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft, neue | |
| Eigentümerin des Hauses, zuvor gehörte es der Deutschen Wohnen. Karin Wehn | |
| ist 2016 eingezogen. In ihrer Wohnung steht ein Pflegebett, von dem man auf | |
| einen gigantischen Fernseher oberhalb einer Vitrine blickt. | |
| Seit die 55-Jährige 2009 an einer Gehirnentzündung erkrankt ist, braucht | |
| sie einen Rollstuhl, normalerweise schränkt sie das nicht groß ein. Sie | |
| habe Freund*innen getroffen, sei einkaufen oder sehr gern ins nahe | |
| gelegene Kino gegangen. „Ich war auch gerne am Landwehrkanal spazieren“, | |
| erzählt sie. | |
| Dennoch ist Wehn abhängig vom Pflegedienst. Eine Sprecherin vom | |
| Pflegedienst erzählt: „Unsere Arbeit hat sich in den letzten Monaten, | |
| bedingt durch den Fahrstuhlausfall, massiv erschwert.“ Normalerweise | |
| könnten die Patient*innen gemeinsam Mittag essen in einer extra dafür | |
| angemieteten Wohnung. Nun sei das Essen manchmal schon kalt, wenn es bei | |
| ihr ankomme, sagt Wehn. Sie fühlt sich in ihren eigenen vier Wänden | |
| eingesperrt, seit der große Fahrstuhl kaputt ist. „Es ist wie zu Corona“, | |
| klagt sie. | |
| Wenn früher der Fahrstuhl mal defekt war, konnte er normalerweise innerhalb | |
| weniger Tagen repariert werden, erinnert sie sich. In einem Aushang am | |
| Fahrstuhl aber teilte die Howoge am 21. Februar mit, dass sie keinen | |
| konkreten Einbautermin nennen können. Man bedauere die Zumutung für die | |
| Bewohner*innen. Sie würden alles daran setzen, um die Reparatur innerhalb | |
| der nächsten Tage zu ermöglichen. Der taz teilt die Howoge mit, dass die | |
| „Umlenkrollen“ erneuert werden müssen. Das Ersatzteil läge der | |
| Wartungsfirma nicht vor, sondern müsse neu angefertigt werden, dazu kämen | |
| Lieferengpässe. | |
| Um die tägliche Versorgung durch Lebensmittel und Medikamente kümmert sich | |
| zu großen Teilen Wehns Freund. Er wohnt sechs Stockwerke über ihr und hat | |
| keine Behinderung. „Aber er hasst einkaufen“, erzählt Wehn. Deshalb habe | |
| sie die Aufgabe auch auf Freund*innen verteilt oder greift notfalls auf | |
| Dienstleister und Online-Supermärkte zurück. | |
| ## Ausgeschlossen von den Treffen mit anderen | |
| Am 11. April traf sich wie jeden Monat die Mieter*inneninitiative. | |
| Hauptthema diesmal: die prekäre Fahrstuhllage. Normalerweise ist Wehn | |
| regelmäßig dabei, nun kann sie nicht teilnehmen. Aus den | |
| Gemeinschaftsräumen im Erdgeschoss dringt Stimmengewirr. Rings um eine | |
| lange Tafel sitzen etwa ein Dutzend Mieter*innen sowie im Haus | |
| arbeitende Pfleger- und Sozialarbeiter*innen. | |
| Brigitte Döller, Physiotherapeutin, erzählt auf dem Treffen, dass eine | |
| ihrer Patientinnen bereits depressive Verstimmungen habe. Sie habe auch im | |
| Februar einen Termin zur Lymphsprechstunde verpasst, auf den sie monatelang | |
| bei der Charité wartete. Auch den neuen Termin Ende April konnte ihre | |
| Patientin nicht wahrnehmen. Das darf nicht passieren, weil ein Fahrtstuhl | |
| kaputt ist, sind sich alle einig. | |
| An der Mitte des Tischs sitzt Wulf Niepold, er leitet das Treffen. Er hat | |
| im Namen der Mieter*inneninitiative eine Handlungsaufforderung an | |
| die Howoge formuliert. Geschäftig sortiert er Papiere und liest vor: „Die | |
| Mieterinitiative fordert seit mehr als fünf Jahren die Wiederherstellung | |
| des rollstuhlgerechten kleineren Fahrstuhls.“ Im Rahmen einer | |
| Fahrstuhlerneuerung 2018 seien neue Kabinen eingebaut worden, sodass der | |
| eine Fahrstuhl noch größer und der andere dafür verkleinert wurde. Davor | |
| sei eine Fahrt in beiden mit einem Rollstuhl möglich gewesen. | |
| Schon damals wehrte sich die Mieter*innengemeinschaft. Mit einer | |
| Vergrößerung könne nach vielen Jahren wieder eine zumutbare Beförderung im | |
| Hause möglich werden, führt Niepold aus. Eine, die auch bei | |
| Ersatzteilmangel nicht zusammenbreche. Reihum wandert die Liste um den | |
| Tisch. Insgesamt werden es 53 Unterschriften. | |
| Den genauen Aufbau vom Schacht kennen die Bewohner*innen nicht; sie | |
| mutmaßen, dass ein zweiter, größerer Fahrstuhl in den Schacht hineinpassen | |
| dürfte. Zu den Umbaumaßnahmen aus der Vergangenheit kann auch die Howoge | |
| keine Auskunft geben. Ihr lägen zu den Entscheidungen der Voreigentümer | |
| keine Informationen vor. Die Howoge weist außerdem darauf hin: „Es ist an | |
| sich nicht ungewöhnlich, dass in Häusern mit mehreren Aufzügen diese | |
| unterschiedliche Größen vorweisen.“ Und der größere, zu reparierende sei | |
| schließlich rollstuhlgeeignet. | |
| Bettina Kramp von der Arbeiterwohlfahrt Berlin ist für die Betreuten in dem | |
| Haus zuständig. Gewundert habe sie der Ausfall nicht, seit 20 bis 30 Jahren | |
| werde das Objekt vernachlässigt. Auch sie ist frustriert von der Situation | |
| und würde Karin Wehn und anderen Betroffenen gern helfen. Die | |
| beeinträchtigten Bewohner*innen haben sie bisher nicht mobilisiert. | |
| ## Hilfe? Kommt offenbar nicht an | |
| Unterstützung sollten die Betroffenen von der Howoge erhalten. „Wir bieten | |
| in der Zeit des Ausfalls Hilfestellungen an“, stand auf dem Aushang, | |
| darunter einer Telefonnummer. Worin die Unterstützung besteht, das wissen | |
| die Bewohner*innen nicht. | |
| Kiezhelfer*innen könnten Betroffene bei Besorgungen oder auf dem Weg | |
| zum Arzt unterstützen, teilt die Howoge der taz mit. „Darüber hinaus | |
| organisiert eine Rahmenvertragsfirma in unserem Auftrag sogenannte | |
| Treppentransporte und tragen Mieterinnen und Mieter im Notfall die Treppe | |
| hoch beziehungsweise herunter.“ | |
| Brigitte Döllers Patientin hatte so einen Notfall. Ihr Katheter sei | |
| herausgerutscht und musste erneuert werden. Weder der Pflegedienst noch die | |
| Ärzte der Bereitschaft könnten das machen. Daher habe man die Feuerwehr | |
| geholt. „Aber die waren total biestig“, sagt Döller. Normalerweise tragen | |
| sie nicht hoch, hätten sie gesagt. Böllers Patientin habe gesagt: „Dann | |
| lassen sie mich liegen und ich sterbe hier und jetzt.“ | |
| Karin Wehn hat die Nummer zum Howoge-Kundenzentrum nicht gewählt. Sie | |
| glaubt nicht, dass das was bringt. „Mit mir wiegt der E-Rolli 200 Kilo, das | |
| kann man keinem zumuten.“ Bei einzelnen Hausbewohnern mag das eventuell | |
| gehen, mutmaßt sie. | |
| ## Die Bauarbeiten beginnen | |
| Zum 20. April wurde der Aufzugschacht für die Reparatur eingerüstet, nur | |
| fertig ist damit noch lange nichts. Auch die zweite Umlenkrollen ist derart | |
| beschädigt, dass diese ebenfalls ausgetauscht werden muss, teilt die Howoge | |
| mit. Dabei hatte vor einem Jahr erst ein Fachunternehmen der Anlage einen | |
| guten Zustand der Anlage bezeugt, schreibt die Howoge. Die beauftragte | |
| Firma schätzt, dass noch ein bis zwei Wochen ins Land gehen bis zur | |
| Instandsetzung. | |
| „Wer weiß, ob die das wirklich in der Zeit hinkriegen“, zweifelt Karin | |
| Wehn. Sie erzählt von einer Nachbarin, die inzwischen mit dem Gedanken | |
| spielt, umzuziehen. Sie selbst möchte bleiben. Sie hat hier alles, was sie | |
| braucht: ihren Freund, ihr Kino und die Spaziergänge am Landwehrkanal. Nur | |
| eins fehlt aktuell: eine Lösung für den Aufzug, um wieder selbstbestimmt zu | |
| leben. | |
| 2 May 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Adefunmi Olanigan | |
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