| # taz.de -- Nachruf auf Gerhard Roth: Der philosophische Biologe | |
| > Der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth prägte die neurowissenschaftliche | |
| > Diskussion mit philosophischen und pädagogischen Fragen. Nun ist er | |
| > gestorben. | |
| Bild: Mischte sich auch in die Bildungspolitik ein: Gerhard Roth | |
| Bremen taz | 80 Jahre ist eigentlich kein Alter, könnte man denken. Nahezu | |
| rastlos hat der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth in den letzten 25 Jahren | |
| Bücher geschrieben und Vorträge gehalten. Nun ist er am 25. April 2023 doch | |
| gestorben. | |
| Roth war einer der renommiertesten Streiter gegen die alten metaphysischen | |
| Menschenbilder im Zeitalter der Neurowissenschaften. Mit dem Buch „Das | |
| Gehirn und seine Wirklichkeit: Kognitive Neurobiologie und ihre | |
| philosophischen Konsequenzen“ fing es 1996 an. „Wie das Gehirn die Seele | |
| macht“ (2016) ist einer seiner provozierenden Titel. Und er [1][mischt sich | |
| an der Bremer Gesamtschule Ost in die Bildungspolitik ein] – „Bildung | |
| braucht Persönlichkeit“ (2011) ist sein Grundsatzwerk, „Schule mit | |
| Köpfchen“ (2022) das jüngste Werk. | |
| Mit 74 Jahren hat Roth eine Beratungsfirma gegründet, zu deren Angebot | |
| „Neurowissenschaft für Coaching und Therapie“ gehört, Resilienz-Management | |
| und Stress-Prävention insbesondere für Führungskräfte. | |
| Roth, geboren 1942, war promovierter Philosoph und promovierter Biologe. Er | |
| kam 1976 als Professor für Verhaltensphysiologie und | |
| Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung an die Universität | |
| Bremen. Von 1997 bis 2008 war er Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs, von | |
| 2003 bis 2011 Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes. | |
| ## Feingeist mit Köpfchen | |
| Gerhard Roth war einer der renommiertesten Autoren in der öffentlichen | |
| neurowissenschaftlichen Diskussion im deutschsprachigen Raum. Als | |
| „Feingeist mit Köpfchen“ titulierte ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung | |
| zu seinem 80sten Geburtstag im vergangenen August – Roth war ein in der | |
| Öffentlichkeit bedächtig und überaus bescheiden auftretender Mensch, privat | |
| liebte er das Klavierspiel. | |
| Bevor er zur Biologie wechselte, hatte er in Münster und Rom Germanistik, | |
| Musik und Philosophie studiert – und 1969 über den kommunistischen | |
| italienischen Denker Antonio Gramsci promoviert. Als Biologe galt sein | |
| Interesse den Salamandern – und der Frage, wie diese Tierchen es schaffen, | |
| mit ihrer schnellen Zunge Fliegen zu erwischen, deren Entfernung größer ist | |
| als die Länge ihrer Zunge. | |
| In seinen Publikationen zur Hirnforschung thematisierte er philosophische | |
| Fragen, die sich aus den neurobiologischen Erkenntnissen ergeben. Eine der | |
| brisantesten Fragen ist dabei sicherlich die der [2][Willensfreiheit]. | |
| Neurobiologen und Psychologen hatten festgestellt, dass in unserem Gehirn | |
| bereits Millisekunden vor einer bewussten Entscheidung ein eindeutiges | |
| Signal feststellbar ist. Roth verallgemeinerte den Befund: „Das subjektive | |
| Erleben, jenes Gefühl, dass ich das bin, der an den Hebeln der Macht sitzt, | |
| ist ganz offenbar eine nachträgliche Zuschreibung.“ | |
| In seinen Studien über die Konsequenzen der Neurobiologie für die Schule | |
| hat Roth weitreichende Reformen angeregt. Er [3][warnte vor der | |
| Überschwemmung der Schule mir elektronischen Geräten]. Denn entscheidend | |
| für den Lernerfolg sei die „Persönlichkeit“ der Lehrenden. | |
| Lieblos eingerichtete Klassenräume behinderten den Lernerfolg ebenso wie | |
| der 45-Minuten-Takt. Wichtig sei das Interesse am Lernstoff, das für | |
| Aufmerksamkeit sorgt – der Umfang der Unterrichtsinhalte müsse dafür | |
| reduziert werden. Und entscheidend für das Langzeitgedächtnis sei die | |
| periodische Wiederholung. Dabei geht Roth davon aus, dass Intelligenz zu 50 | |
| Prozent angeboren ist und zu 30 Prozent von frühkindlicher Förderung | |
| abhängig. Für die Schule bleibt also nur der Rest. | |
| 3 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Wolschner | |
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